Aus den Ferien zurückgekehrt, möchte ich das geneigte Lesepublikum nicht gleich wieder mit schlechten Nachrichten und übelgelaunter Krisenanalyse behelligen, sondern zwei schöne Erfahrungen wiedergeben, die mir Kollegen erzählt haben. Diese zeigen, dass Verständigung auch heute noch möglich ist – anderslautendem Gerede zum Trotz. Es kommt nur auf das Wie, Wo und Wer an, dann ist selbst in unserer dauererhitzten und empörungsfreudigen Gegenwart ein sinnvoller Austausch über weite Unterschiede hinweg möglich.

Kurz vor meinen Ferien traf ich einen Kollegen auf der Straße, der mich beseelt anlächelte. Er habe einen wunderbaren Abend hinter sich. Dabei hätte er sich vorher solche Sorgen gemacht. Er hatte eine jüdische Autorin eingeladen, die »streitlustig« zu nennen eine allzu höfliche Untertreibung wäre. Gerade erst hatte sie eine Talkshow an den Rand des Abbruchs gebracht. Zu groß scheint ihr Drang zu sein, ohne Rücksicht auf Verluste anstößige Gegen-Meinungen zu verbreiten. Wenn alle Vernünftigen das Eine sagen, ruft sie laut und verletzend das Gegenteil in die Welt. Das mag man amüsant finden, aber nur solange es um nichts geht. Wenn aber »Israel und Palästina« auf der Tagesordnung steht, verbietet es sich eigentlich, diesen billigen Automatismus zu bedienen.

Es gibt offensichtlich Menschen, die sich selbst erst dann spüren, wenn sie ihre gesamte Umwelt gegen sich aufgebracht haben. Das ist ein bedenklicher Charakterzug, der leider von Medienleuten regelmäßig ausgenutzt wird, um Dynamik in ihre Produkte zu bringen, auch wenn am Ende nur Unsinn, Verirrung und Erschöpfung stehen. Ganze Karrieren, journalistische und politische, speisen sich aus dieser Mechanik.

Aber dann war es ganz anders gekommen. In seiner Kirche habe die Autorin nachdenklich gesprochen, auf die Literatur konzentriert, sich verletzlich gezeigt, dann lange mit den Anwesenden gesprochen, ihnen aufmerksam zugehört. Ihre beiden arabischstämmigen Leibwächter hätten danach gesagt, dass sie gar nicht aufpassen konnten, weil sie ihr – mit Tränen in den Augen – zuhören mussten. Leider, so mein Kollege, seien nur ungefähr fünfzig Personen gekommen. Viel mehr Menschen hätten das erleben müssen. Da habe ich ihm widersprochen: Wären Massen erschienen, hätten sich Kameras und Mikrofone gestapelt, wäre es kein besserer Abend geworden. Dafür sind doch Kirchen da, dass man in ihnen leiser spricht und genauer zuhört, dass man nicht auf die Quote stiert und wütende Aufregung gar nicht mal so interessant findet, weil man gemeinsam das sucht, was dem Frieden dient.

Als wir auseinandergingen, fiel mir ein Gespräch ein, das ich wenige Wochen vorher geführt hatte. Ein israelischer Musiker hat in Deutschland mit Hilfe der evangelischen Kirche ein wunderbares Projekt initiiert. Er sammelt und erforscht Musik von jüdischen Menschen aus der Zeit der Shoa: von Volksliedern über Chansons und Klassischem bis zu Avantgardistischem. Daraus gestaltet er Konzerte, die ein großes Publikum anziehen. Als ich am 9. November des vergangenen Jahres eines von ihnen besuchte, zog sich eine Schlange um die Kirche und über die nächste Straße.

Aber das Projekt erschöpft sich nicht in Aufführungen. Es gibt auch Workshops in Schulen. Jugendliche erhalten die Aufgabe, die Biografien von jüdischen Musikerinnen und Musikern während der Zeit der großen Judenverfolgung und -ermordung zu recherchieren. Wie von selbst stellen sich ihnen grundlegende ethische und politische Fragen: Was ist die Würde eines Menschen? Wieso konnten Menschenrechte so grausam verletzt werden? Und wie steht es um uns heute? Da ich gerade Artikel über aufflammenden Antisemitismus an Schulen gelesen hatte, fragte ich den Musiker, ob er das nicht auch in seinen Workshops erlebe: Hass auf Juden bei deutschen Jugendlichen, mit und ohne Migrationsgeschichte? Nein, sagte der keineswegs politisch naive Musiker, das sei ihm in seinen Workshops bisher nicht begegnet. Man beschäftige sich doch gemeinsam mit Lebenswegen und Lebensmelodien.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9/2024.