»Katakombenzeit« ist die Metapher, die Wilhelm Flitner in seinem Tagebuch für die Zeit des Nationalsozialismus wählt. Obwohl seine Aufzeichnungen von 1906 bis 1984 reichen, bildet diese Zeit den interessantesten Teil der bisher unveröffentlichten Dokumente des großen Pädagogen geisteswissenschaftlicher Richtung. Flitner fühlte sich eingeschlossen wie in einer unterirdischen Begräbnisstätte der frühen Christen und führte eher Zwiegespräche mit den großen Toten (Goethe vor allem) als mit den Zeitgenossen. Besuchten 1933 noch 600 Hörer seine Vorlesungen an der Universität Hamburg, waren es bald weniger als 50. Im Jahr 1935 legte er die Schriftleitung der Zeitschrift »Erziehung« nieder. Obwohl er – ähnlich wie Karl Jaspers – wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau Elisabeth gefährdet war, gelang es ihm unter Verzicht auf expliziten Protest, seine Stellung als Professor zu halten. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Flitner am demokratischen Neuaufbau seiner Universität aktiv mit und setzte sich für die Rückkehr entlassener Wissenschaftler ein. Sein Hauptwerk »Allgemeine Pädagogik« (1950) übte auf ganze Generationen von Lehrern und Erwachsenenbildnern eine starke Wirkung aus. Er beeinflusste auch die Bildungsreformen der jungen Bonner Republik. Meike G. Werner hat klugerweise eine Auswahl aus den Tagebucheinträgen getroffen und diese durch Briefe, Dokumente und Bilder sowie prägnante eigene Kommentare ergänzt. So werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Flitner an der Universität ebenso nachvollziehbar wie die Bedrohung von Familie und Freunden durch den Holocaust und im Zweiten Weltkrieg durch die Luftangriffe. Aus der Feder von Rainer Hering stammt ein fast 100-seitiger Essay über Flitners Hamburger Jahre, der ebenfalls anschaulich illustriert ist. So lädt die sorgsam hergestellte Edition zur Auseinandersetzung mit einer prägenden Figur des humanistischen Bildungsdenkens ein.

Meike G. Werner und Rainer Hering. Katakombenzeit. Wilhelm Flitner in Hamburg 1929-1969. Göttingen 2025 (Wissenschaftler in Hamburg Bd. 10)

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2025.