Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, war ich 16 Jahre alt. An die Wahl 2005 habe ich wenig Erinnerung, immerhin durfte ich noch nicht wählen. 2009 sah das anders aus: Die CDU ging eine Koalition mit der FDP ein, der darauffolgende Aufschrei in dem linken Weimarer Studentenzirkel, zu dem ich damals zählte, war gewaltig. Als ich ab Ende 2009 in Spanien lebte, war oft das erste, was ich hörte, sobald ich erwähnte, dass ich aus Deutschland komme: »Dios mío, Angela Merkel« – und das ausnahmslos mit rollenden Augen und genervtem Stöhnen verbunden. Zu deutlich waren noch die Nachwehen der weltweiten Finanzkrise in Südeuropa zu spüren – und die Merkel’sche Linie dazu kam nicht an.
2014 traf ich Angela Merkel zum ersten Mal persönlich – während eines Praktikums in London. Und: Mensch, war die nett – sogar zu mir, der Praktikantin. Zur Flüchtlingskrise 2015 sah ich unsere Kanzlerin zum ersten Mal bewusst in einem anderen Licht. Ihr »Wir schaffen das!« berührte mich.
Heute ist sie für mich: überzeugte Europäerin, die um den Zusammenhalt des Kontinents kämpft; starke Frau, die sich stets in einer von Männern dominierten Politikwelt beweisen muss; Pfarrerskind aus dem Osten, dass sich im wiedervereinigten Deutschland den eigenen Weg erarbeitet.
Jeder und jede in Deutschland kann die letzten 16 Jahre ebenso mit wegweisenden politischen Entscheidungen Merkels und persönlichen, zum Teil hoch emotionalisierten Reaktionen darauf verbinden. Da tut es gut, dem Ganzen ein paar Fakten gegenüberzustellen, wie es Ursula Weidenfeld in »Die Kanzlerin: Porträt einer Epoche« tut. Nüchtern beschreibt sie den Lebensweg von Angela Kasner, die für viele auch nach 16 Jahren in der Öffentlichkeit ein Rätsel geblieben ist. Sie ergründet, woher Merkels beharrliche Kraft kommt, gibt Einblick in politische Hintergründe und zeigt historische Entscheidungen im heutigen Kontext auf. Das Buch ist das Porträt einer außergewöhnlichen Frau – und somit sehr lesenswert: für alle.
Ursula Weidenfeld. Die Kanzlerin: Porträt einer Epoche. Berlin 2021