Im Mai 2022 wurde die Direktorin des Bremer Übersee-Museums, Wiebke Ahrndt, zur Präsidentin des Deutschen Museumsbundes gewählt. In diesem Jahr kann sie zudem auf 20 Jahre als Leiterin des Übersee-­Museums zurückblicken. Für die PuK-Redaktion willkommene Anlässe, die Ethnologin und Direktorin aktuell mit einem Porträt zu würdigen.

Das Geheimnis seiner Faszination trägt das Übersee-Museum schon im Namen. Bereits vor 100 Jahren präsentierte das Museum mit seiner in Europa einzigartigen Sammlungskombination aus Handel, Kultur und Natur gewissermaßen »Die Welt unter einem Dach«. Seit zwei Jahrzehnten bestimmt Wiebke Ahrndt die Geschicke dieser Welt hinter dem Horizont der Nordsee und ihr Konzept dafür hört sich einfach an, ist aber schwer zu machen: »Immer am Puls der Zeit bleiben, immer On the Move sein. Ein Museum darf nie zum Museum im Museum werden. Wir haben sehr alte Sammlungsbestände, aber die Ausstellungen – und das war im Übersee-Museum schon immer so – beschäftigen sich mit der Gegenwart. Deshalb ist es mir extrem wichtig, dass es möglich bleibt, die Ausstellungen kontinuierlich zu erneuern.«

Zwei Jahrzehnte sind eine lange Zeit, in der sich die Welt weitergedreht hat. Sind die klassischen Aufgaben der Museen – Sammeln, Bewahren, Forschen, Vermitteln – heute noch gültig? Wozu braucht man die Originale, wozu Naturkunde und Ethnologie? Ist dem Museum der aktiven Anschauung im World Wide Web nicht längst eine übermächtige Konkurrenz erwachsen? Ist die Bildungsinstitution aus dem 19. Jahrhundert noch relevant für junge Leute? Als Ahrndt in Bremen anfing, da war das Internet tatsächlich ein sehr großes Thema. Heute kann sie dazu entspannt in der Rückschau sagen: »Die Angst vor dem Internet ist verschwunden. Ich kann nicht verzeichnen, dass Museen einen Publikumsschwund erlebt hätten, weil es das Internet gibt. Mir sagte einmal jemand, das Übersee-Museum sei wie National Geographic in 3D. Das finde ich eigentlich keine schlechte Beschreibung, weil es tatsächlich so ist, dass wir durch unsere Ausstellungen Interpretationen zu bestimmten Fragestellungen geben.«

Wiebke Ahrndt leitete bei der Ausarbeitung des »Leitfadens zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten« des Deutschen Museumsbundes die Arbeitsgruppe »Kolonialismus«. Hat die Restitutionsdebatte auch das Übersee-Museum erreicht? Die Aura des Originals ist etwas, was die Besucher des Übersee-Museums nach wie vor schätzen. Da liegt es nahe zu fragen, darf denn das alles hier bleiben? Im Moment arbeiten Ahrndt und ihre Kuratorinnen und Kuratoren an der Pazifik-Ausstellung, die mit Bundesfinanzierung und in engster Kooperation mit der National University of Samoa komplett neu auf neue Beine gestellt wird.

»Wir haben tatsächlich auch schon Rückgaben getätigt in Bezug auf menschliche Überreste aus dem pazifischen Raum. Ansonsten haben wir im Moment keinen dezidierten Rückgabewunsch aus Samoa. Dagegen gibt es den Wunsch nach digitaler Zugänglichkeit zu den Sammlungen und Archivalien. Das stellen wir her, die digitalisierte Sammlung geht komplett nach Samoa. Mit unserem samoanischen Co-Kurator zusammen haben wir eine eigene Facebook-Seite ins Leben gerufen, auf der er die Sammlungsbestände aus unserem Haus mit Menschen aus Samoa teilt und diskutiert. Das sind neue Formen bei der Erschließung von Sammlungsbeständen.«

Geboren in der ehemaligen Hansestadt Braunschweig führte Wiebke Ahrndts Weg sie ohne große Umwege zur Ethnologie und danach ins Übersee-Museum, denn seit früher Jugend begeisterte sie sich für die Kulturen anderer Länder und für deren Artefakte. Etwa 30 durchgearbeitete Bände von Karl Mays Reiseberichten bestärkten den Teenie in seinem Interesse an der außereuropäischen Welt. »Im Erdkundeunterricht hatten wir einen jungen Erdkundelehrer, der tatsächlich bestimmte Themen aus der Ethnologie in seinen Lehrplan aufgenommen hatte. Es war natürlich erst mal ein Schock, feststellen zu müssen, dass das, was Karl May erzählt, einem Realitäts-Check nicht standhält.«

Nach dem Abitur ging es von Braunschweig ins nur eine Stunde entfernte Göttingen, wo Wiebke Ahrndt an der Georg-August-Universität Ethnologie mit dem Schwerpunkt Altamerikanistik studierte. Ein Studienaufenthalt an der US-amerikanischen University of California Los Angeles schloss sich an. Danach folgte das Examen und 1995 die Promotion in Altamerikanistik an der Universität Bonn. Nach einem Volontariat am Museum für Völkerkunde in Hamburg (heute: MARKK) und wissenschaftlichen und kuratorischen Tätigkeiten in Mexiko und Basel wechselte sie 2002 nach Bremen an das Übersee-Museum. »Die Welt unter einem Dach« war für Ahrndt auch zu einer persönlichen Devise geworden: »Ein gewisses grundsätzliches Verständnis für die unterschiedlichen Fachdisziplinen ist nötig, um ein Mehrspartenhaus zu leiten. Hier im Haus nenne ich nur mal die Ethnologie, Biologie und Geschichte, aber auch Öffentlichkeitsarbeit, Restaurierung oder Museumspädagogik. Das hilft auch bei der Arbeit im Deutschen Museumsbund mit seinen zahlreichen Fach- und Arbeitskreisen.«

In Zeiten von Interkontinentalflügen steht die Aufgabe der ethnologischen Museen nochmals neu im Fokus. »Heute ist das Museum eine Institution, die versucht, Dinge einzuordnen, zu vermitteln und zu kontextualisieren. In unserer kommenden Ausstellung werden wir Verbindungen herstellen zwischen Identität, Migration, Klimawandel, Kolonialismus und nachhaltiger Ressourcennutzung im Pazifischen Raum. Diese Dinge tatsächlich einordnen zu können und zu fragen, was haben heutige Fragen der Ressourcennutzung eigentlich mit der deutschen Kolonialzeit zu tun, das eröffnet neue Perspektiven auf die Welt. Und damit auch ein neues Verständnis füreinander, das eine touristische Reiseerfahrung nicht leisten kann.«

Wenn man 20 Jahre in einem Museum mitgestaltet, dann muss es doch auch »Lieblinge« geben? »Ein Museumsdirektoren-Posten ist ein Managementjob und man denkt sehr viel nach über Geld, das man nicht hat, und man muss sehr viele Projektanträge schreiben. Was für mich immer ein ganz großer Schatz in meinem Arbeitsleben ist, das ist es, Ausstellungskonzeptionen zu machen. Mit den Kuratorinnen und Kuratoren der verschiedenen Fachdisziplinen ein Ping-Pong der Ideen zu spielen, der Kreativität Raum lassen, das ist das Lebenselixier meines Berufslebens.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022.