Wenn sich Verhältnisse grundlegend ändern, wie es gerade geschieht, und man verunsichert in die umwölkte Zukunft zu schauen versucht, ist es hilfreich, sich eine schlichte Frage zu stellen: War es früher besser? Muss das Neue, das sich anbahnt, nur als Verlust und Gefahr betrachtet werden? Es könnte doch sein, dass man das Frühere nur deshalb festhalten möchte, weil man es gewohnt ist und selbst davon profitiert. Das frage ich mich regelmäßig angesichts der Veränderungen in meiner Kirche. Um mich am Beginn eines neuen Jahres zu orientieren, habe ich diese Frage auf einen anderen Lebensbereich angewandt, der mir ebenfalls viel bedeutet. Ich gebe es zu: Ich bin ein Feuilleton-Junkie, seit jeher kann ich nicht genug vom Kultur- und Debatten-Journalismus bekommen. Deshalb schmerzt und beunruhigt es mich, wie sehr das Feuilleton an Umfang, Niveau, Weite und Bedeutung verliert. Doch um mich nicht im Jammern zu verlieren, habe ich eine Probe aufs Exempel versucht.

Mit sechsjähriger Verspätung habe ich die Frank-Schirrmacher-Biografie von Michael Angele gelesen. Ich wollte mich von ihr zurück in die vermeintlich letzte goldene Zeit des Feuilletons führen lassen. 2014 war der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung plötzlich verstorben. Er galt als der größte Impulsgeber und lustvollste Zampano des deutschen Kulturjournalismus. Fiel sein Lebensende mit dem Beginn des Niedergangs des Feuilletons zusammen, den wir gegenwärtig beobachten? Als sie herauskam, hatte ich Angeles Biografie nicht gelesen. Ich hatte mir gerade eine Medien-Diät verordnet. Das auf Skandal und Getöse gestimmte Schirrmacher-Feuilleton hatte mich enerviert. Die Trauer über seinen unerwarteten Tod, die aus vielen Nachrufen sprach, konnte ich gut nachvollziehen, die zumeist kritiklose Ehrerbietung jedoch nicht. Wahrscheinlich hätte ich mich geärgert, wenn ich Angeles Biografie gleich nach Erscheinen gelesen hätte. Nun aber, mit dem nötigen Abstand, hat sie mich sehr angeregt – gerade, weil ihr Gegenstand wirkt wie aus einer anderen Welt. Was für ein Leben muss das damals in den deutschen Feuilleton-Redaktionen gewesen sein: Geld, Reichweite, Ansehen, Macht im Überfluss. Aber bedeutet das, dass es früher besser war?

Angeles Schirrmacher-Biografie ist eigentlich ein Schelmenroman. Sie erzählt vom märchenhaften Aufstieg eines hochbegabten, sehr belesenen und überaus ideenreichen – nun ja: Hochstaplers. Oder wie soll man jemanden nennen, der eigentlich keine Substanz hat – inhaltlich nicht und auch als Leitungsperson nicht? Ich erinnere mich, wie ich irgendwann aufgehört habe, Schirrmachers Artikel zur Kenntnis zu nehmen, weil sie stets so lärmend auftrumpften und dabei eigentümlich leer blieben. Verrückt erscheint mir heute, wie er zum Bestseller-Autor aufsteigen konnte. Hatte das Publikum damals denn gar kein Urteilsvermögen? Obwohl: Das kann man sich heute gelegentlich auch fragen.

Zugleich ist Angeles Biografie ein Lehrbuch über Machterwerb und Machmissbrauch. Es ist gar nicht lustig nachzuvollziehen, wie ein Zeitungschef damals seine Untergebenen in Angst halten und fertig machen konnte. Mit seinen prominenten Opfern unter Schriftstellern und Politikern habe ich etwas weniger Mitleid, auch wenn mir einige seiner erfolgreichsten Attacken heute unanständig erscheinen. Vor allem aber staune ich über die Macht, die sich ein Zeitungschef damals aneignen und wie unkontrolliert er sie ausüben konnte.

Dahin, dahin. Heute ist das Feuilleton viel leiser – wenn es nicht gerade hilflos versucht, irgendetwas zu skandalisieren. Es weiß, dass sein Einfluss drastisch gesunken ist. Es kämpft ums Überleben. Eine gewisse Ahnung von heutigen Arbeitsbedingungen habe ich, deshalb bewundere ich jeden Morgen, was Kulturredaktionen immer noch zu leisten im Stande sind. Ihren Machtverlust aber bedauere ich nicht. Denn auf dem Höhepunkt seiner Macht war das Feuilleton nicht eben eine Schule der Demokratie oder der substanziellen Kulturvermittlung. Das hat mich diese kluge Biografie gelehrt. Also, versagen wir uns den nostalgischen Blick zurück und schauen wir lieber nach vorn.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2025.