Ich weiß nicht: Bin ich als musikaffiner alter weißer Mann überempfindlich, paranoid, greisenunduldsam? Oder geht es Ihnen vielleicht gelegentlich genauso? Wenn ich in einem proppenvollen Bus, in U- oder S-Bahn umringt von zumeist jugendlichen Hightech-Musikanten jeglichen Geschlechtes aus drei Lautsprecher-Boxen und neun offenen Kopfhörern zeitlich auch noch versetzt vom BummBummBumm der Techno-Freaks gemischt mit unverständlichem Gebrabbel von Rappenden beschallt werde, ergreife ich mittlerweile die Flucht. Zumal die höflich vorgetragene Bitte, die Schall-Tsunamis etwas zu dämpfen, geschlossene Abhör-Ohrwürmer zu nutzen üblicherweise wenigstens mit der Androhung von Blutrache beantwortet wird. Nein, ich will meinen Fremdlärm-Hass gar nicht auf junge Menschen reduzieren: Den röhrenden Handy-Opa, der im Ruheabteil des ICE seine Ruhmestaten bei der Fremdenlegion en détail ins Mobi seines Enkels ausmärt. Die sirenenstimmige Mittfünfzigerin, deren Hass auf jüngere Männer, fein durchargumentiert, mobiltelefonisch ein ganzes Regio-Abteil indoktriniert. Der zwanghafte Tennisrasenfetischist mit seinem Zweitakt-Motormäher, der allabendlich beim Kreislauf in seinem Zehn-Quadratmeter-Vorgarten neben krachendem Getöffe auch noch Gestank produziert: Horror. Wehrlos ergeben möchte ich mich solchen Trommelfellfoltern auch nicht. Mangels materieller Masse und dank hinlänglicher Erfahrung mit der Gebührenordnungslotterie von Rechtsanwälten suche ich juristischen Rat und Fallbeispiele im Netz. Unter dem Stichwort »Lärmbelästigung«: Links in Hülle und Fülle. Jede Menge gesetzlicher Regelungen und Verbote lassen mich ungläubig zurück. Allein die Überwachung würde zwei- bis dreihunderttausend mit teuren Phonmetern ausgestattete Lärmchecker erfordern. Ich suche nach technischen Rettungsringen – und werde fündig: Im Angebot fürs noch unverdorbene Kinder- und Jugendohr, ein nicht ganz preisgünstiges »Vergräm-Gerät«: nervige Jugendliche einfach per Knopfdruck verjagen – ein Kasten aus Großbritannien sendet Gefiepe, das angeblich nur Jugendliche hören. Nun kommt das Gerät nach Deutschland. Die Behörden sind unsicher, ob der »Mosquito« legal ist. Der Trick: Mit dem Alter lässt das Gehör nach, sodass Menschen über 25 die hohen Töne aus dem »Mosquito« meist nicht mehr hören können. Wer sie aber hören kann, wird von dem Gezirpe gequält: ein steter, leicht pulsierender Ton im Frequenzbereich zwischen etwa 16 und 19 Kilohertz und mit einem Schalldruckpegel von bis zu 104 Dezibel komme aus dem »Mosquito«, so die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund. Aus einem Meter Entfernung zum Ohr kann dieser Druck so schmerzhaft wahrgenommen werden wie der Lärm eines Presslufthammers oder eines vollen Clubs. Das Hörfolter-Instrument erreicht laut Hersteller eine Reichweite von bis zu 20 Metern. Die »Mosquitos« hängen ohne DIN-Zertifizierung offenbar schon an zahlreichen Stellen in Deutschland (Osnabrück, Nürnberg, Oberammergau): Über 700-mal hat eine Firma aus Vechta – nach eigenen Angaben – den Pieper verkauft. Auf einem Beipackzettel ist zu lesen, das Gerät diene dazu, »Gruppen von Jugendlichen zu zerstreuen, die durch ihr unsoziales Verhalten die Öffentlichkeit (…) belästigen oder bedrängen«, sodass man seinem rechtschaffenen Tagesablauf nicht nachgehen könne … Au Backe: Als gewaltverachtender Frühboomer habe ich keinen Bock, selbst rücksichtslose Spießigkeit wie Schallterror mit offensichtlicher Technik-Spießigkeit zu begegnen. Das klingt ja nach Vorstufe von elektrischem Stuhl. Also mache ich mich auf die Suche nach den Umständen angemessener gleichgesonnener Unterstützerschaft. Auf den einschlägigen sozialen Netzwerken veröffentliche ich mein Anliegen – und erhalte eine Fülle unterschiedlichster Ratschläge. Als semikulturell konditionierter Bürger überrascht mich die Wirkung der zahlreichen musikbasierten Vertreibungsbeispiele. Eine theoretische Begründung lieferte schon vor 20 Jahren der Musikpädagoge Michael Büttner über den Versuch, Junkies mit klassischer Musik aus Bahnhöfen zu vertreiben: »Büttner: Ich habe mich noch keinem Selbstversuch unterzogen, vermute aber, dass höhere Frequenzen z. B. der Geige als brutaler physischer Schmerz erlebt werden können.« Tja, soll ich dauernd einen CD-Player mit Violinkonzerten rumschleppen? Dennoch scheint sowohl im Hamburger wie im Leipziger Hauptbahnhof der Einsatz klassischer Musik die von der DB gewünschte Wirkung gezeitigt zu haben: Das forsche Sachsen meldet: »Sie waren die ersten ›Leipziger‹, über die Reisende beim Verlassen des Hauptbahnhofs stolperten: Punks, Gammler und aggressive Bettler, die vor dem Westeingang auf dem Boden saßen, Bier tranken, an die Wände urinierten. Seit ein paar Tagen sind sie nun verschwunden. Dank Bach, denn neuerdings ist auf dem Bahnhofsvorplatz klassische Musik zu hören. Die kommt aus an der Fassade versteckten Boxen – und die vertreibt die Gammler.«

Wüste Diktion. Dann wagte – mitten im Öffentlich-Rechtlichen FDP-Lindner, zur Abwehr von Flüchtlingen erstmals den Begriff »Zaun« anzuwenden. Und zwei Tage später erreichte mich ein mit Rotwein-Fingerabdruck verifizierter Brief des FDP-Vize und stellvertretenden Bundestagspräsidenten Wolfgang Kubicki. Ein Assistent hätte ihn auf meine hochinteressant-defensive Schallmauer aufmerksam gemacht. So könne Europa seine Außengrenzen doch mit ureigenstem Kulturgut schützen. Er stelle sich Lautsprecher-Türme (»deutlich preiswerter als Panzer oder F16-Jets«) an empfindlichen Stellen vor. Je nach abzuweisender Volksseele könnten Hundert-Dezibel-Dauerschleifen von Heino (Belgien), Stockhausen (Luxemburg), Rammstein (Dänemark), Mozart (Türkei), Badenweiler Marsch (Schweiz, diese Feiglinge) oder Zehn kleine N-Wörter (Italien) grenznah Wunder wirken. Verlage und Komponisten (soweit noch lebendig und nicht ausgewandert) profitierten dank GEMA.

Sine musica nulla vita, und »Wo man singt, da lass dich …«, schoss es mir durch den Kopf, verbunden mit einer pfingstigen Erleuchtung: Künftig würde ich in den mich quälenden beschriebenen Situationen laut singen, fröhliche Lieder, notfalls verstärkt mit einer kleinen Karaoke-Anlage. Böse Menschen kennen bekanntlich keine Lieder.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.