Warnung: Im folgenden Text wird aufgrund von Papierreduktion zwecks Rettung unserer Wälder und umweltschonender Einsparung von Druckerschwärze das generische Maskulinum verwendet.

Traurig, traurig: Ein ansonsten international als wirklich bedeutend anerkannter Kulturevent, die documenta in Kassel, erschüttert durch Haltungsschäden nicht nur die ungefähr nullkommazwei Prozent ernsthaft qualitätsbewusst Kunstaffiner in unserem Land der Dichter, Denker, Komponisten und Werbetreibenden. Dabei haben die Kuratoren schon bei der Formulierung der Headline »documenta fifteen« ein sehr feines Gefühl für polyglotte Weltläufigkeit bewiesen. Unterstrichen durch die Wahl des leicht modifizierten Youngster-Magnet-Songs »Sweet little Fifteen« in der aufgefrischten Version von Xavier Naidoo als akustisches Lead-Motiv.

Ausgerechnet ein doppelt-flugzeughangar-formatiges Wimmelbild namens »People’s Justice« des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi, verdächtig spät installiert, sorgte mit in der Tat widerlichen, indiskutablen antisemitischen Verunglimpfungsdarstellungen für weltweite Aufmerksamkeit und wütenden Protest. Mittlerweile ist das Corpus Delicti entfernt. Die üblich-hektische Verantwortungsverteilung hat begonnen – unter anderem mit der grausamen Drohung unserer Kulturstaatsministerin Claudia Roth, der Veranstaltung künftig die zehn Prozent Bundeszuschuss zu entziehen. Vielleicht kann sie sich für das Ersparte dann ja klügere Redenschreiber leisten.

Wie dem auch sei: Mich ermahnte dieser Vorgang zunächst – in Sachen Politik und Kultur äußerst vorsichtig zu sein. Ein hohes Maß vielseitiger Empfindlichkeiten galt es zu berücksichtigen. Und ich versuchte zunächst panisch, all meine gemeinen und frechen Glossen und Pöbeleien aus den sozialen Netzwerken zu löschen. Womit ich meist leider scheiterte, weil ich immer bei allgemeinen Geschäftsbedingungen landete, die ich zeitlebens noch nie verstand.

Reumütig entsann ich mich des filbingeresken Offiziers und Musikpädagogen Egon Kraus, geboren 1912, der, dank bester Kenntnisse des Kulturlebens in der Zeit von 1933 bis 1945 in Innsbruck promoviert, von 1950 an professoral diverse westdeutsche Musikhochschulen zierte und ab Ende der 1950er Jahre als Generalsekretär der Internationalen Gesellschaft für Musikerziehung (ISME) und beim Internationalen Musikrat fungierte. Seine Auftritte hatten Wucht. Er bevorzugte auch noch 1980 bei sommerlichen Auftritten schwere Heeresstiefel. Und leichtfertig wie ich seinerzeit war, spottete ich oft über seinen Lieblingssatz: »Musik, die mit Politik sich verbindet, verliert ihren Wert, ihre Anmut und Würde, wird gewissermaßen defloriert.« Hätte ich damals auf ihn gehört, wäre ich etwas freundlicher gewesen – ich nagte heute nicht am Hungertuch, hätte wenigstens ein, zwei Bundesverdienstkreuze und ein paar alte Freunde.

Um mich etwas aufzuheitern, ließ ich anhand zahlreicher, für eine umfassende Komödie oder Operette zeitweise gesammelter Aufzeichnungen über den Deutschen Musikrat alte Pläne Revue passieren. Konnte tatsächlich oft herzlich lachen – davon gern nächstes Jahr mehr …

Da fiel mir ein Satz meines alten Kornettlehrers ein: »Fürs Lernen ist es nie zu spät.« Und ich entsann mich einer Füllmeldung aus der »Burghausener Metzgerblume«: Ein garantiert neutraler Akt des Deutschen Musikrates, wie ich fand – die Startrampe für meine neue Karriere als Veranstaltungsmanager internationalen Formates: »Die Gemeinde Dürrröhrsdorf-Dittersbach ist vom Deutschen Musikrat als Landmusikort 2021/2022 ausgezeichnet worden. Die Übergabe der Plakette bei einem Konzert im Lieblingstal, vor der Hubertuskapelle. Der Vorsitzende des Sächsischen Musikrates, Prof. Kersten, wird dort die Plakette an den Bürgermeister der Gemeinde Dürrröhrsdorf-Dittersbach, Herrn Timmermann, übergeben. Die Gemeinde Dürrröhrsdorf-Dittersbach in der sächsischen Schweiz vereint ein aktives Musikleben in historischer Stätte. Ein großer Posaunenchor, ein über 160 Jahre alter Gesangverein, aktive Kirchenmusik und eine historische Silbermannorgel vereinen sich mit dem Lieblingstal, dem Dittersbacher Schloss und der wilden Wesenitzklamm. Musikalische Vielfalt kommt in romantischer Umgebung zusammen.«

Prima! Warum eigentlich nur musikalische Vielfalt? Sofort googelte ich Dürrröhrsdorf-Dittersbach, fand heraus, dass Bürgermeister Timmermann parteilos war, die AfD keinen Sitz im Gemeinderat hatte und griff zum Handy. Bei des Bürgermeisters breit sächselnder Sekretärin stellte ich mich als gesamtdeutscher Veranstaltungsverwerter vor und landete erst mal bei der Müllverbrennung, dann aber bei Herrn Timmermann. Ich entwickelte für ihn spontan einen weitgefächerten Katalog von internationalen Sport- und Kulturaktionen, die noch nicht von den einschlägig gefräßigen Berater-Haien geschluckt waren: Bumerang-Suchlauf, Brunnentauchen, Stacheldrahtskulptur-WM, Jodel-Stafette, Bratschen-Nonette, Gender-Kanon, Diversitäts-Triangeln, Betttuch-Beschichten, Barockschlagzeug-Rennen, Blockflöten-Schnitzen, Holzmichel-Achtstimmig, Posaunen-Weitwurf, Ingeborg-Bachmann-Dialekt-Wettbewerb, Wesenitzklamm-Beschallen, Silbermann-Orgeln … und so weiter. Jau, Jau Jau, röhrte Herr Timmermann – und meinte dann leider schlau: Wenn Sie die nötige Knete mitbringen und für die Finanzierung sorgen: gern. Melden Sie sich 2028, für 2023 bis 2028 sind wir schon mit einer internationalen Erotik-Messe ausgebucht. Mist, dachte ich. Und setzte ein Bewerbungsschreiben als Redendichter für Claudia Roth auf.

Asiatisch-Deutsch bzw. Asiatische Deutsche wird großgeschrieben, um auf die kulturellen Identitätskonstruktionen und die gesellschaftspolitische Positionierung zu verweisen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2022.