»Ich bin nicht Stiller!« Dieser Satz von James Larkin White, dem Protagonisten in Max Frischs Roman »Stiller«, steht – längst losgelöst vom Bestseller – als Synonym für Menschen auf Identitätssuche. »Wohin gehöre ich? Ich bin anders.« Im Gymnasium in Ladenburg bei Heidelberg wurde die »Stiller«-Lektüre für eine Schülerin wesentlich in ihrer Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Denn Awet Tesfaiesus war in ihrem kleinen kurpfälzischen Heimatdorf eine Ausnahme. Dabei wurde ihr schnell bewusst, dass ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Identität gesellschaftliche und politische Dimensionen hat.

1974 in Asmara, Äthiopien, heute Eritrea, geboren, verbrachte Awet Tesfaiesus die ersten zehn Jahre ihres Lebens mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in dem vom Unabhängigkeitskrieg gebeutelten Land. 1984 kam sie nach Deutschland. Mittlerweile ist sie seit mehr als 15 Jahren Rechtsanwältin und seit 2009 Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2021 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestages und in dieser Funktion Obfrau des Kulturausschusses und ordentliches Mitglied im Rechtsausschuss. Und als erste Schwarze Frau in der Geschichte des Deutschen Bundestages ist sie auch hier wieder eine Ausnahme.

»Heimat, das ist für mich kein einzelner Ort. Heimat ist ein wandelnder Begriff. Ich habe natürlich eine starke Verbundenheit zu Eritrea – dem Ort, dem Essen, der Musikkultur. Je länger die Zeit aber entfernt ist, in der ich dort lebte, desto mehr wird der Ort zur Erinnerung, zur Nostalgie. Das Rhein-Neckar-Gebiet ist auch ein Stück Heimat, hier bin ich aufgewachsen.« Obwohl Awet Tesfaiesus seit etwa 15 Jahren in Nordhessen bei Kassel lebt – ihr Bundestagswahlkreis ist Werra-Meißner und Hersfeld-Rotenburg –, geht ihr das Herz auf, wenn Kurpfälzisch gesprochen wird: »Dann fühle ich mich zu Hause.«

Von Asmara nach Ladenburg: Awet Tesfaiesus besuchte weder Grund- noch Hauptschule, sondern kam direkt aufs Gymnasium in die fünfte Klasse. Das hatte sie auch dem Engagement ihres Vaters zu verdanken, der sich sehr für seine Tochter einsetzte, da sie in allen Fächern außer Deutsch problemlos mitkam. »Die Sprache allein ist kein Indiz für kognitive Fähigkeiten«, so Tesfaiesus. Zu Hause sprachen wir Englisch und Tigrinya; in den ersten zwei Jahren war also Nachhilfe in Deutsch angesagt: »Der Tagesablauf war für mich davon geprägt, Leistung zu bringen. Ich war neben meiner Schwester das einzige Schwarze Mädchen an der Schule, was es mir nicht einfach machte. Anfeindungen habe ich zwar nicht erfahren, aber ich war ›exotisch‹. Ich war anders.«

Jungen Menschen in Deutschland ist eines gemeinsam: Sie sind eine behütete Generation, aufgewachsen in einer demokratisch verfassten Gesellschaft, die Bürgerrechte garantiert, mit Abwesenheit von Krieg, Wehrpflicht, Folter oder politischer Verfolgung. Was einem diese Werte bedeuten können, wenn sie nicht selbstverständlich sind, macht ein Lebenslauf, wie der von Awet Tesfaiesus, deutlich.

Von früh auf mit Gefahrensituationen und politischen Fragen konfrontiert, war es für sie unverständlich, in Deutschland auf unpolitische Menschen zu treffen: »Ich hatte nie die Wahl, unpolitisch zu sein«, so Tesfaiesus.

Auch eine Neigung für Rechtswissenschaften wurde ihr, mit einem Richter als Großvater, quasi in die Wiege gelegt: »Ich war eigentlich immer diejenige, die, wenn es ums Argumentieren ging, die Führung übernahm. Auch für meine große Schwester. Das hat mir in Auseinandersetzungen immer Freude gemacht.«

Nach dem Abitur entschied sich Tesfaiesus dafür, ein Jurastudium an der Universität Heidelberg aufzunehmen. Für die typisch deutsche Universitätsstadt sprach nicht nur, dass sie geografisch nicht weit von der Familie lag, sondern auch, weil »man da als Schwarze Frau ganz anders aufgenommen wurde. Es herrschte eine andere Atmosphäre. Damals waren viele Angehörige der US-Armee in Heidelberg stationiert. Das heißt, Schwarz zu sein, wurde eher mit Studentin, Amerikanerin oder Touristin verbunden. Das spürte ich in jedem Geschäft und jedem Restaurant, in das ich hineinging.«

Bereits als Studentin, aber auch als Referendarin, arbeitete Tesfaiesus in verschiedenen ehrenamtlichen und beratenden Einrichtungen im Bereich Migrationsrecht. Daran wollte sie als Anwältin anschließen und wurde zur Mitbegründerin einer Anwaltskanzlei. »Ich habe Zugänge zu Klientinnen und Klienten, die viele Anwältinnen und Anwälte nicht haben. Ich weiß, wie es sich anfühlt und wie die Abläufe sind. Ich spreche die Sprache eines dominanten Teils der Geflüchteten. Ich habe Expertise und möchte sie nutzen. Deshalb habe ich mich für diesen Bereich entschieden. Das habe ich dann für über 15 Jahre gemacht.«

Politisch war die junge, erfolgreiche Anwältin dabei immer. Als in den 2000er Jahren die Bilder aus Teneriffa und den kanarischen Inseln über die Bildschirme flimmerten, als man sah, wie Menschen am Strand landeten, während die Urlauber in der Sonne lagen, da war für sie der Punkt erreicht, wo sie sich konkret politisch engagieren wollte: »Wir hatten eine Gruppe, die zu diesen Themen gearbeitet und mit verschiedenen Parteien gesprochen hat. Und die Grünen waren die einzigen, die sehr unbürokratisch gesagt haben: Wir haben eine Mitgliederversammlung, kommt einfach vorbei, ihr bekommt das Wort und könnt euer Anliegen schildern.«

2011/2012 wurde Tesfaiesus in den Parteivorstand der Grünen in Kassel gewählt. Als die AfD 2016 ins Stadtparlament gewählt wurde, stellte sie sich für die Stadtverordneten-Versammlung zur Wahl, weil sie ein Gegengewicht bilden wollte. Und nach dem Anschlag in Hanau 2020 entschloss sie sich zur Kandidatur für den Bundestag. Die Erschütterung darüber sitzt bis heute: »Diesen Schockmoment hatte ich schon mal in den 1990er Jahren, als ein Asylheim brannte, die Menschen applaudierten und ich mir eigentlich fest vorgenommen hatte, Deutschland zu verlassen. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass 30 Jahre vergangen waren und nichts passiert ist. In diesem Moment sagte ich mir: a) Warum bist du nicht gegangen? und b) Warum hast du denn nichts dagegen gemacht?«

Für die Bundestagswahl 2021 ließ sich Tesfaiesus in ihrem Wahlkreis als Direktkandidatin aufstellen, zog dann über die Landesliste in den Deutschen Bundestag ein. »Bis heute beschäftigt mich das Thema Dekolonisierung in allen Bereichen der Gesellschaft. Das kann heißen: Wie können wir unsere Beziehungen zu Namibia verbessern, wo die deutsch-namibische Aussöhnungsdeklaration gerade noch ausgehandelt wird? Denn die vom Genozid betroffene Bevölkerungsgruppe der Nama und Herero fühlt sich in den Prozess nicht eingebunden. Das betrifft aber auch andere Länder wie Kamerun und Tansania – die Nachkommen des Königs und Widerstandskämpfers Rudolf Duala Manga Bell beispielsweise fordern Rehabilitierung von uns, und der Enkel des Chiefs und Widerstandskämpfers Mangi Meli sucht immer noch nach dem Schädel seines Großvaters in deutschen Museumsarchiven. ›Der vermessene Mensch‹, ein Film von Lars Kraume, kommt im März in die Kinos und thematisiert die deutsche Kolonialgeschichte. Es ist ein wichtiger Schritt unter vielen, der dem Thema hoffentlich mehr Aufmerksamkeit geben wird – denn wir beschäftigen uns zu wenig mit Kolonialismus und seinen Auswirkungen. Während meiner Zeit am Gymnasium habe ich dazu beispielsweise nichts gelernt.«

Themen wie Vielfalt und Diversität sowie migrantische Perspektiven auf Erinnerungskultur sind für Awet Tesfaiesus keine reine politische Agenda, sondern vielmehr die Prämisse eines gelingenden Zusammenlebens der Menschen in Deutschland. Denn egal, ob in der Schule oder im Bundestag – die Erfahrung, eine Ausnahme zu sein, gibt Tesfaiesus den Antrieb, Zugänge zu schaffen, sodass die, die nach ihr kommen werden, keine Ausnahme mehr sind.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2023.