Eugen Diederichs, der erfolgreiche Kulturverleger, sah Anfang 1917, angesichts von Kriegsmüdigkeit und Verzweiflung im vierten Kriegsjahr, die Zeit gekommen, um eine geistige Standortbestimmung zu versuchen und die Nachkriegsordnung Deutschlands in den Blick zu nehmen. Dafür wollte er die interessantesten intellektuellen Köpfe der Zeit versammeln, und zwar nicht in der Metropole Berlin, sondern ausdrücklich in der Provinz. Auf der malerischen Burg Lauenstein in der thüringisch-bayerischen Grenzregion, wo der Krieg weit weg war, trafen sich zwischen Pfingsten 1917 und 1918 etwa 70 Teilnehmer insgesamt dreimal. Zu den Lauenstein-Fahrern gehörten Marianne und Max Weber, Otto Neurath, Werner Sombart, Ferdinand Tönnies, Theodor Heuss, Friedrich Meinecke, Ernst Toller und Gertrud Bäumer. Der Teilnehmerkreis bestand aus jungen und alten, weiblichen und männlichen Akteuren unterschiedlichster politischer und weltanschaulicher Richtung, die hier noch einmal nach einem gemeinsamen Weg suchten.

Die Lauensteiner Tagungen, obwohl in der Forschung nicht unbekannt, gewinnen jetzt durch das Buch von Meike Werner an Anschaulichkeit und Tiefe. Die Autorin erzählt anhand einer Reihe von wieder aufgetauchten Fotografien, in welcher Beziehung die Teilnehmer zueinanderstanden und welche Positionen sie vertraten. Der unumstrittene Star der ersten beiden Tagungen war Max Weber, der sich gegen irrationale Heilserwartungen wandte und für eine demokratische Ordnung eintrat. Doch besteht das Verdienst des Buches darin, auch seine Kontrahenten zu Wort kommen zu lassen und die Geschichten zu erzählen, die wenig mit dem berühmten Soziologen zu tun haben, aber für das Verständnis der geistigen Gemengelage entscheidend sind – insgesamt ein faszinierender Einblick in die deutsche Intellektuellengeschichte.

Meike G. Werner. Gruppenbild mit Max Weber: Gespräche über die Zukunft Deutschlands nach dem Krieg. Göttingen 2023

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.