Andreas Reckwitz gehört zu den scharfsinnigsten Beobachtern gesellschaftlicher Entwicklungen. In seinem jüngsten Buch »Verlust. Ein Grundproblem der Moderne« seziert er mit analytischer Präzision die Dynamiken des Kulturkapitalismus und die zunehmenden Verlusterfahrungen westlicher Gesellschaften. Sein Ansatz ist weniger kulturkritisch als diagnostisch – ein Versuch, die Mechanismen von Fortschritt und Krise sachlich zu durchdringen. Reckwitz beschreibt, wie der Zwang zur Selbstverwirklichung und Individualität zu einem permanenten Optimierungsdruck führt. Wenn aber jeder einzigartig sein muss, ist das Scheitern vorprogrammiert – sozialer Abstieg, Bedeutungsverlust traditioneller Institutionen und wachsende Unsicherheit sind die Folgen. Neben materiellen Verlusten thematisiert Reckwitz auch den Verlust kultureller Gewissheiten. Während wirtschaftliche Strukturen weiterhin auf Wachstum setzen, fehlt vielen Menschen eine sinnstiftende Erzählung. Diesen paradoxen Zustand nennt er »rasenden Stillstand« – Bewegung ohne Richtung. Gefühlte Verluste begünstigen populistische Bewegungen, die daraus eine rückwärtsgewandte Utopie formen. Während andere Autoren diesen Aspekt zuspitzen, bleibt Reckwitz sachlich und strukturanalytisch – vielleicht zu sehr, denn die politische Dimension wird nur gestreift. Reckwitz verknüpft gesellschaftliche Entwicklungen schlüssig und bringt neue Perspektiven in die Debatte ein. Allerdings bleibt unklar, wie der »rasende Stillstand« überwunden werden kann. Zudem fehlt eine globale Perspektive – China und Indien bleiben Randnotizen. Ein kluges Buch mit offenen Fragen. Trotz kleiner Schwächen ist Verlust eine profunde Analyse unserer Zeit. Es fängt das Unbehagen westlicher Gesellschaften ein und könnte ein Klassiker werden.

Andreas Reckwitz. Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Berlin 2024

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2025.