Die spektakuläre Entdeckung der Gletschermumie Ötzi in den Ötztaler Alpen 1991 ging rasch um die Welt und beschäftigt wie kaum ein anderer archäologischer Fund des letzten Jahrhunderts viele Wissenschaftler noch heute. Doch es gibt viele weitere hochinteressante Funde aus den Permafrostböden und Gletschern, die Beachtung verdienen.

Es ist das Verdienst des Sammelbandes, die Eisfunde in einen kulturhistorischen Kontext zu stellen. Die Besonderheit ist die Überlieferung eines Augenblicks, etwa zu vergleichen mit dem Ausbruch des Vesuvs in Pompeji 79 n. Chr. Die Erhaltungsbedingungen dieser Funde durch das Eis und den Permafrost sind oft phänomenal. Dazu zählen etwa Holz, Textilien, Haut und Haare; ja selbst Tätowierungen und Mageninhalte sind uns überliefert. Sie erzählen uns spannende Geschichten menschlicher Schicksale mit ihren Traditionen, religiösen Vorstellungen und Opfergaben, von Alltag, Ernährung, Lebensweise und Lebensumständen. Die anschaulich vorgestellten Funde führen nach Österreich, in die Schweiz, nach Italien und in weit entfernte Regionen wie die Mongolei oder hoch hinauf auf den Mount Everest. Und so manche Entdeckung und anschließende Analyse gleicht einem Krimi. Nur durch interdisziplinär zusammenarbeitende Wissenschaftler werden solche Erkenntnisse erst möglich. Von dem noch sehr jungen Forschungszweig Gletscherarchäologie ist noch viel zu erwarten. Zugleich steht die Gletscherarchäologie vor besonderen konservatorischen Herausforderungen, da vor allem organisches Material, wird es durch Eisschmelze plötzlich freigelegt, sehr rasch zerfällt. Auch deshalb bleibt zu wünschen, dass die Gletscher nicht allzu rasch verschwinden und die Menschheit ohne sie in eine weitere Katastrophe schlittert. Der beste Schutz dieses kulturellen Erbes ist das Eis.

Prädikat: besonders wertvoll; nicht zuletzt aufgrund der herausragenden Fotografien der Befunde in situ!

Thomas Reitmaier (Hg.). Gletscherarchäologie: Kulturerbe in Zeiten des Klimawandels. Darmstadt 2021

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.