Fünfundvierzig Sekunden: So lange dauerte Kim Buis letzte Übung bei den Europameisterschaften in München im Jahr 2022, bevor sie ihre lange Turnkarriere beendete. In ihrer Biografie wird schnell klar, dass zwei Seelen in ihrer Brust leben: einerseits die Leidenschaft für das Turnen, das sie bereits im Kindergartenalter für sich entdeckte, andererseits das starre Gerüst des Hochleistungssports, das nicht nur außergewöhnliche Disziplin verlangt, sondern auch Unterwürfigkeit und Leidensfähigkeit.

Ein Vierteljahrhundert turnte sie auf Spitzenniveau, schaffte ihr Abitur mit 1,9, studierte gleichzeitig Technische Biologie, zog sich zwei Kreuzbandrisse zu und fungierte 14 Jahre als Athletensprecherin im Deutschen Turner-Bund. Ein Leben zwischen Turnhalle, Schulbank, Hörsaal und Öffentlichkeit. Ihre Leidenschaft, aber auch ihre Ambivalenz, ist in jeder Zeile, die sie zusammen mit dem Autor Andreas Matlé verfasst hat, spürbar. Als Kind vietnamesisch-laotischer Eltern, die vor dem Krieg flüchteten, wächst sie in Deutschland auf. In ihrem Elternhaus gelten Respekt, Fleiß, Ordnung und Disziplin als hohe Tugenden. Das Kind Kim will diese Anforderungen erfüllen, hadert allerdings auch oft damit.

Ambivalenz empfindet Bui auch im Turnen. Einerseits hält sie es für die schönste Sportart der Welt, andererseits klagt sie auch Missstände an, die verkrusteten Strukturen, die nicht immer kindgerechte Umgangsweise mit jungen Turnerinnen. An ihrem Karriereende gibt es seitens des Verbandes zahlreiche Zusatz- und Hilfsangebote, die Bui sich noch selbst mühsam suchen muss, als sie an Bulimie erkrankt. Kim Bui ist allen Widrigkeiten zum Trotz eine wichtige Stimme für den Sport. Ihre Innenansicht des Turnens zeigt: Auf ihre Expertise sollten die Verantwortlichen auf keinen Fall verzichten.

Kim Bui. 45 Sekunden – Meine Leidenschaft fürs Turnen – und warum es nicht alles im Leben ist. München 2023

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2024.