Die Deutschen seien in den letzten zwei Jahrhunderten »fortwährend mit der Mitte beschäftigt« gewesen, notierte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler vor Jahren in einem seiner klugen Bücher. Wie zum Beweis dessen hat die Redakteurin der »Zeit«, Mariam Lau, ihrem Porträt von Friedrich Merz den Untertitel »Auf der Suche nach der verlorenen Mitte« gegeben. In einer ersten Reaktion darauf fragt auch die »taz«, ob der Kanzler tatsächlich »ein Mann der Mitte« sei. Um dann den Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins, Daniel Günther, zu zitieren, der sich inzwischen von Merz gut vertreten fühlt.

Das kann der konservative Teil der CDU nicht im selben Maße behaupten. Dort hatte man lange auf einen Kanzler Merz gehofft, der wie weiland Barbarossa aus dem Kyffhäuser emporsteigt und der Partei wieder ihr wahres Gesicht verleiht. Fragt man diesen Teil der Partei nach ihrem Verständnis von Mitte, bekommt man erwartungsgemäß eine ganz andere Antwort als von den Merkelianern in der CDU, die mit ihren politischen Traditionen zuweilen umgehen wie mit einem gebrauchten Hemd. Man besitzt es zwar noch, aber man möchte es nicht mehr zeigen.

Wenn die politische Beobachterin Mariam Lau von der »verlorenen Mitte« der CDU spricht, könnte man also meinen, es ginge ihr um genau diesen Verlust. Aber Lau ist vielmehr bestrebt, Friedrich Merz – wie man heute sagt – anschlussfähig zu machen an die durch Merkel veränderten, eher nicht konservativen Gruppierungen in der Partei. Es ist diese vermeintliche neue Mitte der CDU, an der sich Merz orientieren soll. Und damit er gar nicht erst auf andere Gedanken kommt, umgibt sie ihn mit einem Kranz von Warnschildern, angefangen bei der Nazivergangenheit seines Großvaters bis zur »schwarzblauen Höllenwoche des Kandidaten« als er die Brandmauer zur AfD für seinen migrationspolitischen Husarenritt übersprang.

Damals war Wahlkampf, und das linksgrüne Lager schäumte. Gemessen daran hält sich Mariam Lau in ihrem Urteil auffallend zurück. Merz soll seine Chance bekommen. Aber die ist natürlich an Spielregeln geknüpft.

Journalisten neigen dazu, Politikern gute Ratschläge zu erteilen. Im Falle des Buches von Mariam Lau nimmt das geradezu fürsorgliche Züge an. Das Wort von einem »embedded journalism« fällt einem dabei ein. Bei Mariam Lau möchte man lieber vom »einbettenden Journalismus« sprechen. Sie umhegt diesen neuen Kanzler wie mit einem schützenden Weidezaun. Die bösen Wölfe sollen gefälligst draußen bleiben. So ist ihr Buch zu einer Art publizistischer Firewall geworden: Merz, der Liberale, heißt ihre Botschaft, der die verlorene Mitte der Gesellschaft wiederherstellen kann.

Ihr Buch wäre nicht so überzeugend, wenn sie sich mit plakativen Appellen begnügte. Sie hat aber die Fehler der Merkeljahre sehr wohl verstanden und weiß, dass die damalige Vorsitzende ihre Partei in Richtung schwarzgrüner Stimmungslagen verschob. Pech nur, dass es die schon bald nicht mehr gab. Die CDU wanderte damals unbeirrt an ihren alten Kohorten vorbei und wunderte sich später, dass ein Teil ihrer Anhänger auf der Strecke blieb. Damals entstand das, was die Politikwissenschaft eine Repräsentationslücke nannte. Ideale Wachstumsbedingungen für die AfD.

Dass Mariam Laus Merz-Porträt über eine reine Personenbeschreibung hinaus zu einem bemerkenswert klugen Lagebild der CDU geworden ist, kann man schon daran erkennen, dass sie den dramatischen Wanderungsverlust der Partei nicht für eine lässliche Sünde hält. Sie sieht die große, die existenzielle Gefahr. Merz müsste daher nicht nur wirtschaftspolitische Wunder bewirken. Er muss dafür sorgen, dass dieses Land wieder zusammenwächst und seine Gräben sich schließen. Was aber ohne den konservativen Teil seiner Partei und Wählerschaft gar nicht geht. Diesen versprengten Teil muss er zurückzuholen in den akzeptierten politischen Raum. Denn es rächt sich bitter, dass die Grenzen zwischen »konservativ« und »rechtsaußen« so fahrlässig verwischt worden sind. So hat man den Konservativen den Boden entzogen. Sie waren eine der tiefen Wurzeln dieser Partei.

»Liberale Demokratien können nicht überleben, wenn die rechte Mitte sie nicht stützt«, bringt Mariam Lau diese Erkenntnis auf einen Punkt. Das ist längst nicht Allgemeingut geworden. Und sie scheut auch nicht die sich daraus ergebende Frage, ob Konservative sich gegen die Autoritären behaupten können. Die Antwort darauf war in der deutschen Geschichte einst nicht ermutigend ausgefallen.

Die Mitte, die Lau meint, ist kein linkes Projekt, wie man zu Gerhard Schröders Zeiten noch glaubte. Und die damals erhofften Mehrheiten sind in weite Ferne gerückt. Die Suche nach der politischen Mitte ist heute ein zutiefst konservatives Unterfangen geworden, das die versprengten Teile unserer Gesellschaft wieder einsammeln muss. Es braucht dafür eine offene Debattenkultur, deren Verlust wir alle bedauern. Es geht nicht mehr um den Kulturkampf vergangener Tage. Das hat der von Merz berufene Kulturminister Weimer deutlich gesagt. Diese Mitte ist kein Erziehungsprojekt. Sie ist der Ort freier Bürger. Aber sie muss auch ein Beheimatungsangebot an alle diejenigen sein, die sich zu unserem Land bekennen. Wir reden so leichtfertig vom Migrationshintergrund. Den haben heute sehr viele. Selbst die Menschen, welche hier geboren sind, fühlen sich in ihrem eigenen sich dramatisch verändernden Land fremd. Diese Mitte unserer Parteienlandschaft ist kein tagespolitisches Mehrheitsproblem und auch kein bloßes Bekenntnis. Sie meint den Ort, wo die liberale Nation entsteht, die viel mehr bedeutet als das tägliche Streiten und Hoffen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2025.