Peter Lilienthal ist der einzige Berliner, der je die Berlinale gewann. 40 Jahre nachdem er mit seiner Mutter vor dem alltäglichen Terror des nationalsozialistischen Deutschlands floh, markiert der Goldene Bär den Höhepunkt seines Lebenswerks. Der Tod des 95-jährigen Regisseurs mahnt uns: Es ist Zeit, dieses Werk wiederzuentdecken.

Der vielversprechendste unter den jungen deutschen Regisseuren

Die New York Times feierte 1971 Peter Lilienthal als vielversprechendsten unter den jungen deutschen Regisseuren, lange bevor er sich im Berlinale Wettbewerb unter anderem auch gegen Rainer Werner Fassbinder durchsetzt. Seine experimentellen und provokanten Fernsehspiele fallen auf im Schwarz-Weiß-Fernsehen der 1960er Jahre – wenn auch zunächst nur durch historisch schlechte Publikumsbewertungen. In den Fernsehstudios genießt er Narrenfreiheit. Und wenn doch ein Sendermitarbeiter mal versuchte, den Unfug des Regisseurs zu bremsen, entgegnet der selten verlegene Autorenfilmer: »Das habt ihr wohl bei den Propagandakompanien gelernt.«
1939 war seine Mutter mit dem zwölfjährigen Peter Lilienthal und der Großmutter aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Uruguay geflohen. Als sie knapp 20 Jahre später zurückkehren, waren sie die letzten Überlebenden der Familie. Das Bekleidungsgeschäft des Großvaters am Berliner Kudamm gab es nicht mehr. Sein bester Freund – ermordet in der Shoah, wie so viele seiner Familie und Schulkameraden.

Lilienthal gilt als Begründer des Neuen Deutschen Films und lehnt diese Zuschreibung doch immer entschieden ab. Als der Autorenfilmer Alexander Kluge das Oberhausener Manifest vorstellt, dreht er in Baden-Baden »Der 18. Geburtstag«, eine subtile Studie über den Konflikt zwischen wohlstandsfixierten Eltern und vernachlässigter Jugend. Kurz nach der Gründung des Filmverlags der Autoren verabschiedet er sich nach Chile, um mit seinem Freund, dem Poeten und späteren chilenischen Botschafter Antonio Skármeta, an »La Victoria« zu arbeiten. Seine Filme sind Autorenfilme. Sie zeigen eine Haltung, aber eine Nationalität haben sie nicht. Richtig ist aber auch: Der Neue Deutsche Film konnte nur werden, was er war, weil es Lilienthal gab. Ohne jeden Funken nationaler Sentimentalität, gegenüber jeder Überhöhung grundsätzlich misstrauisch, voller Respekt und Schamlosigkeit: Darauf konnte man bauen im Land der Täter und Mitläufer. Es brauchte auch den Weltbürger Lilienthal, um nach dem Traditionsbruch des Nationalsozialismus auch in Deutschland eine Filmschule zu begründen.

Mit »David« dreht er den ersten deutschen Film über die Shoah und gewann den Goldenen Bären 1979. Er erzählt die Geschichte von einem, der »Den Netzen entronnen« war, so der Originaltitel des Tagebuchs von Joel König, auf dem der Film basiert. Königs Erinnerungen schildern Alltag und Anekdoten von den idyllischen Kindheitsjahren über die Pogromnacht bis zum Leben in der Illegalität. Die Menschen, die in die Vernichtungslager deportiert werden, zeigt Lilienthal zuletzt, wie sie in das Dunkel einer Bahnhofshalle verschwinden. Für das, was sie danach erwartete, will er keine Bilder finden. Das letzte Wort im Buch: Auschwitz. Sein Film endet mit der rettenden Flucht des Protagonisten.

Denk ich an Deutschland: Ein Fremder

Die Verpflichtung gegenüber den Toten erschöpft sich für ihn aber nicht in der Erinnerung an die Shoah. Er sammelt Zeitungsausschnitte, insbesondere zu rechtsextremer Gewalt. Nach dem Mord an Walter Lübcke 2019 durch einen Rechtsextremisten und den rechtsmotivierten Anschlägen von Halle und Hanau in den Monaten danach, hat er stets einen dieser Artikel griffbereit in einer Schublade. »991 Einzeltäter?« lautet die Überschrift. Es ist die Titelseite der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung vom 18. März 1999. Der Artikel erinnert an die vielen unaufgeklärten rassistischen und antisemitischen Straftaten. Und er prangert die mantraartige Erzählung von verwirrten Einzeltätern an, mit der Behörden und der damalige Bundespräsident beschwichtigen. Ein Ergebnis dieser Beobachtung der Epidemie rechtsextremer Angriffe der 1990er Jahre ist der Film »Ein Fremder«. Der Film ist ein persönliches biografisches Mosaik aus Erinnerungen, Überzeugungen und Hoffnungen. Das Drehbuch umfasst Fragmente der eigenen Kindheitserinnerungen: Das Schild »Hunde und Juden unerwünscht« im Fenster einer Konditorei im Berlin der 1930er Jahre. Und die trotzige Reaktion der Mutter: »Wir backen deinen geliebten Kuchen selbst.« Lilienthal verknüpft diese Szenen mit der Gegenwart und reist mit der Kamerafrau Elfie Mikesch unter anderem nach Eberswalde, wo Amadeu Antonio Kiowa von rechtsextremen Jugendlichen ermordet wurde.

Das unverfilmte Werk: Jud Süß

Lilienthal arbeitet in den 1990er Jahren auch an einer ganz anderen filmischen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. »Der Mann im Käfig« ist der Arbeitstitel einer Verfilmung von Lion Feuchtwangers Roman »Jud Süß«. Der Roman diente auch dem nationalsozialistischen Regisseur Veit Harlan als Vorlage für den Propagandafilm »Jud Süß«. 2001 erklärt er, ihn interessiere neben der Romanvorlage an Oppenheimer vor allem »der Abenteurer und Lebemann, der nicht mehr merkt, wo seine Feinde sind«. Kurze Zeit darauf gibt er das Vorhaben auf, diesen von den Nationalsozialisten missbrauchten Roman zurückzuerobern. Es ist nicht das einzige unverfilmte Werk des Regisseurs. Darunter erstaunlich viele epische Stoffe, etwa Magellans Weltumsegelung aus der Perspektive eines Schiffsjungen – mit Meuterei, Seeschlachten und Riesen. Auch das Projekt, das Lilienthal bis zuletzt als sein persönlichstes bezeichnete, erreichte nie Produktionsreife. »Simon der Zauberer« sollte von einem Jungen in Galizien erzählen und zeigt am deutlichsten die Spuren seiner großen Helden, dem in der Shoah ermordeten Schriftsteller und Zeichner Bruno Schulz und den in die USA emigrierten Literaturnobelpreisträger Isaac B. Singer. Ausgerechnet das Filmprojekt »Ikarus« schaffte es von allen epischen Lilienthal-Stoffen am weitesten. Die Crew stand schon in der Wüste bereit zu drehen, als die Finanzierung platzte – und alles abgebrochen werden musste.

Selbstverständlich kann ein Ausnahmeregisseur ein Historiendrama auch im Kleinen erzählen. Und dennoch braucht die Filmkunst wie keine andere eine wirtschaftliche Basis. Die Protagonisten des Neuen Deutschen Films wussten das und forderten im Oberhausener Manifest eine kulturelle Filmförderung und erklärten sich im Gegenzug bereit, mehr wirtschaftliche Risiken zu tragen. Diese Art von Filmpolitik interessierte Lilienthal nie, das Nötigste ließ er sich von Alexander Kluge erklären. Er arbeitete am Werk. Was uns davon heute bleibt, ist in Teilen in Archiven eingeschlossen. Und teilweise ist es nie verfilmt worden. Das nicht verfilmte epische Werk von Peter Lilienthal ist eine unsichtbare Lücke in der Filmgeschichte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.