Wenn jemand Neues den Raum betritt, sollte man zunächst versuchen, ihn kennenzulernen. Man sollte nicht, während er noch durch die Tür geht, eine Petition gegen ihn losschicken. Auch hier gilt (um mit Karl Lagerfeld zu sprechen): Wer Online-Petitionen unterschreibt, hat die Kontrolle über sein geistiges Leben verloren. Nun zu Wolfram Weimer, dem neuen Kulturstaatsminister: Um ihn kennenzulernen, habe ich mir sein letztes Buch »Sehnsucht nach Gott. Warum die Rückkehr der Religion gut für unsere Gesellschaft ist« (2021) besorgt. Hier nun eine kleine Inhaltswidergabe des schlanken Werks. Vorweg, es ist kein Skandal, wenn ein Kulturstaatsminister ein positives Verhältnis zur Religion hat. Denn das Christentum ist in Deutschland erlaubt. Die Frage ist nur, was Herr Weimer unter Christentum versteht und wie dies seine Kulturpolitik bestimmen könnte.
Entgegen eigenen Erfahrungen und religionssoziologischen Diagnosen erklärt Weimer: »Das 21. Jahrhundert wird ein Zeitalter der Religion. Gott kehrt zurück, und zwar mit Macht.« Das hat durchaus etwas Beängstigendes. Denn als Ausgangspunkt des religiösen Revivals macht Weimer »9/11« und den Terror des politischen Islams aus. Auch in Russland, Indien oder im Iran erhöben politische Religionen ihr Haupt und stellten dem durchsäkularisierten und vom Alltagsatheismus der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft beherrschten Europa wieder die Gretchen-Frage. Weimer plädiert dafür, sie beherzt zu beantworten und christlich zu füllen. Europa müsse sich seiner religiösen Wurzeln vergewissern und die eigenen, christlichen Werte selbstbewusst behaupten, um gegenüber fanatisch erhitzten Feinden zu bestehen. Es brauche eine »Mobilisierung der eigenen Kultur« und damit der eigenen Religion.
Der Kern des christlichen Europas ist für Weimer das Prinzip der Menschenwürde. Es entfalte sich in Tugenden wie »Demut, Verantwortung, Nächstenliebe«. Das Christentum besitze eine hohe kulturelle Prägekraft – gut romantisch gesprochen: »Religion ist die Poesie der Völker.« Ein »naiver Multikulturalismus« beziehungsweise ein »Kultur-Masochismus« habe eine »europäische Niedergangssklerose« befördert, gegen welche man »die kulturelle Macht der christlich-jüdischen Religion (sic)« in Stellung bringen müsse. Mehr Religion führe zu mehr Kultur und umgekehrt.
Ein großes Anliegen ist es Weimer, die Bedeutung der christlichen Familie herauszustellen. In der Tat, wie die Religionssoziologie wieder und wieder erklärt, ist die Familie der wichtigste Ort des Glaubens, weit vor der Kirche. Sie sei zudem die Keimzelle einer gesunden Gesellschaft und stelle dem alles verwertenden Kapitalismus ein Asyl der Menschlichkeit entgegen. Eine zweite Pointe von Weimers Religionsrückkehr besteht in der Zurückweisung eines linkskulturellen, obrigkeitlichen Moralismus. Wer in christlichen Werten verankert sei, müsse sich den »Hohepriestern des Gutmenschentums« nicht unterwerfen.
In einer der wenigen Rezensionen meinte der evangelische Theologe Tilman Asmus Fischer, in Weimers Programmschrift »eine problematische Vereinnahmung der Religion« zu erkennen, die das Christentum in den »Dienst nationaler Sinnstiftung« stelle. Dieses primär politische Interesse am Christentum zeige sich auch daran, dass Fragen der persönlichen Frömmigkeit keine größere Rolle spielten, sondern nur am Schluss kurz angefügt würden. Wenn diese Kritik zuträfe, wäre zu fragen, ob und wie Weimer seine religiösen Überzeugungen in konkrete Politik umsetzen will. Oder wird er sich darauf beschränken, die dicken Bretter von Struktur und Finanzierung zu bohren, damit andere in aller Freiheit die Inhalte schaffen?
Für alle, die meine Inhaltswidergabe die Stirn in Falten legen ließ, habe ich noch zwei Zitate parat. Erstens: Der zentrale Wert des Christentums, die Menschenwürde, »verbietet jede Unterdrückung und Diskriminierung, stellt die Geschlechter gleich, wehrt jeden Statusunterschied nach Rasse, Sprache, Herkunft, Geld und Glauben«. Zweitens: »Es gibt keine Kultur ohne Dialog, auch keinen Dialog ohne Kultur.«