Starke Bezüge zur Geschichte und Tradition einer Stadt oder einer Region sind typische Kennzeichen einer gelungenen Baukultur. Für den Architekten Peter Haimerl sind Baukultur und seine individuelle »Baukunst« eng miteinander verwoben. Das beste Beispiel dafür ist das so genannte »Wunder von Blaibach«. Auf Initiative des ebenfalls aus der Gegend stammenden international gefeierten Baritons Thomas E. Bauer konnte Peter Haimerl vor zehn Jahren mitten im Ortskern des 2.000-Einwohner-Dorfes im Bayerischen Wald ein futuristisch anmutendes Konzerthaus realisieren.

Als wäre ein Meteor aufgeschlagen, ist ein mit ortstypischen Granitplatten ummantelter Betonquader schräg in die Erde des Blaibacher Marktplatzes versenkt. Die Granitfassade erinnert an die Wurzeln Blaibachs als Steinhauerdorf. Der Saal fasst 200 Zuhörer, auf der Bühnen finden 60 Musiker Platz. Der nach dem neuesten Stand der Technik akustisch gestaltete Innenraum sowie das künstlerische Netzwerk des Intendanten Bauer sind der Grund dafür, dass dort, in der sogenannten Provinz, ein Konzerthaus mit weltweiter Ausstrahlung entstanden ist. »Blaibach«, sagt Haimerl, »hat einfach stark eingeschlagen, weil wir da andere Wege gegangen sind. Ein Teil der Welt ist Kultur, und die gehört selbstverständlich auch nach Blaibach.«

Denkt man an die modularen Kulturbauten des Wiener Büros von Ferdinand Fellner und Hermann Helmer, das Ende des 19. Jahrhunderts Mitteleuropa mit über 50 Bauten belieferte, dann liegt die Frage nahe, warum Haimerl seine »Konzerthaus-Quader in der Provinz«-Idee nicht mehrfach vermarktet. Die Frage trifft Haimerl – und er beantwortet sie klar: »Es gibt zwei Arten von Architektur. Die eine ist die spezifisch ortsabgestimmte, und dann gibt es eine modulare Architektur, die ich übrigens auch gerade plane. Bei Kulturbauten ist es extrem wichtig, dass diese auch mit dem Ort verbunden und verwurzelt sind. Das Gebäude muss mit dem Ort sprechen.« Ein weiteres Beispiel für Haimerls ortsgebundenes Bauen ist der Konzertsaalneubau fürs Haus Marteau im oberfränkischen Lichtenberg, der vor drei Jahren eröffnet wurde. Um die Gründerzeit-Villa Marteau nicht durch einen Anbau zu verändern, ging Haimerl auch hier in den Untergrund, ohne Abstriche an Akustik und Funktionalität. Die internationale Resonanz für sein jüngstes Konzertsaalprojekt gibt ihm recht.

Der Bayerische Wald, seine Höfe, Weiler und Dörfer, vor allem die Menschen dort, sie prägten Haimerl seit seiner Kindheit und gaben ihm das mit, was ihn heute ausmacht und was ihm bis heute wichtig ist: Liberalität, Individualität, Herkunft und Entdeckerlust.

»Bauen wie in Blaibach«, so Haimerl, »war nur im Bayerischen Wald möglich, in Oberbayern und in anderen Gegenden wären Behörden und Bevölkerung auf die Barrikaden gegangen. In Blaibach, aber auch im gesamten Bayerischen Wald, hat die alte Zeit teilweise noch überdauert. Im Bayerischen Wald gab es ziemlich wilde, anarchische Typen, Männer und Frauen, und alle waren eher Einzelgänger und Einzelgängerinnen. Mir ist erst später aufgefallen, dass dieses Einzelgänger-Modell sehr modern ist. In der heutigen Zeit sind die Menschen individualistisch, alle wollen eigen sein. Es gibt nicht diesen gesellschaftlichen Zwang, sich in kleinsten sozialen Gruppen abzustimmen. Der Bayerische Wald war daher immer schon extrem liberal.«

Nicht nur der Charaktertypus der Menschen hat überdauert, auch von den alten Häusern im Wald ist noch manches auffindbar. Haimerl hat immer wieder erfolgreich versucht, diese Einzelstücke in die Gegenwart zu holen. »Birg mich, Cilli« hieß ein Projekt von Haimerl im Bayerischen Wald, das ihm auch über die Region hinaus Beachtung verschaffte: Er rettete ein 180 Jahre altes verfallenes Bauernhaus, indem er dessen Inneres mit einem 20 cm starken Skelett aus Schaumglasschotter-Beton auskleidete. Äußerlich darf es ungehindert weiter altern. »Birg mich, Cilli« dient bis heute der Familie Haimerl als Ferienhaus. Geografisch ganz knapp nicht aus dem Bayerischen Wald stammt Jutta Görlich, Haimerls Ehefrau. Die gebürtige Straubingerin ist zusammen mit dem Architekten die Bauherrin des besagten Einsiedlerhofes und seit langem Teil des Büros Peter Haimerl. Wer einmal in Blaibach war, kennt die Künstlerin in der Rolle als »Schwarze Frau«, ein Mythos aus dem Bayerwald: Große Bildplakate des Fotografs Edward Beierle mit der komplett schwarz gekleideten Künstlerin als Sujet fanden und finden sich an Scheunenwänden und Garagentoren, an den Schaufenstern verlassener Geschäfte, im Konzerthaus, gegenüber dem Bürgerhaus, an den Wänden des verlassenen Freibades und in den Fensterscheiben unbewohnter Häuser. Das Zentrum von Blaibach wurde zum Museum.

Nach dem Fachabitur in Deggendorf verließ Peter Haimerl den Bayerwald und begann – ohne rechte Begeisterung – ein Studium der Architektur an der Fachhochschule in München. »Ich wollte nie Architektur studieren und habe mich nebenher laienhaft mit Erkenntnistheoretikern beschäftigt, bis ich im vierten Semester auf ein Buch stieß, von dem ich dachte, dass es da um grafisch aufbereitete Erkenntnistheorie geht. Tatsächlich ging es aber um das Haus X von Peter Eisenman. Das war die Initiation für mich. Von dem Tag an war meine Devise: Architektur ist das, was man denken kann!«

Nach dem Studium folgten Zeiten in den Büros von Günther Domenig, Raimund Abraham, Klaus Kada und Uwe Kiessler. Von 1988 bis 1991 startete er mit Armin Lixl und Paul Schlossbauer das Forschungsprojekt »Die offene Stadt«: ein Entwicklungsmodell, das ganz bewusst auf die historische, kulturelle und soziale Gesellschaft Europas aufbaut und diese mit modernsten Mittel in die Zukunft führen will. Das war der Start von zoomtown: Von 2019 bis vor kurzem führt Peter Haimerl das schon 1990 von ihm initiierte Projekt zoomtown an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz fort. Das Projekt zoomtown denkt, plant, forscht und entwirft Arbeiten im Bereich Architektur und Infrastruktur und präsentiert eine alternative Zukunftsvision für Kerneuropa.

»Auch wenn ich meine Forschungsarbeit an zoomtown mittlerweile aufgegeben habe, muss ich zugeben, dass ich immer noch zu 90 bis 95 Prozent aus diesem Pool schöpfe«, sagt der Architekt und bezieht sich damit auch auf sein 2020 fertiggestelltes Wabenhaus in der Messestadt München-Riem, ein zukunftweisendes Beispiel für modulares Bauen im stadtverdichteten Raum. Unter Wabenhaus muss man sich ein Gebäude vorstellen, das sich aus sechseckigen, horizontal aufeinander gestapelten wabenförmigen Röhren zusammensetzt, die zu einem Cluster in Form eines großen Wabenstocks montiert werden. Das in der Natur weit verbreitete Prinzip der Hexagonalstruktur erlaubt intelligente, räumliche Verschachtelungen und ermöglicht unzählige Kombinationsmöglichkeiten von Raumeinheiten und Clustern. Wände verschwinden und werden zu Verbindungstreppen oder Raumtaschen. Mit dem Wabenhaus überschreitet Peter Haimerl einmal mehr die Grenzen konventioneller Architektur und Stadtplanung: »Das Wabencluster ist optimal für genossenschaftliches Leben: Es ist gemeinschaftlich, es ist sozial, es ist einbindend und öffnet sich zur Nachbarschaft.«

Ist das Wabenhaus die Wohnmaschine der Zukunft? »Nein, der Sinn von Architektur ist nicht, irgendwelche Wohnmaschinen zu bauen, wie das irrtümlicherweise mal postuliert wurde. Der Sinn von Architektur war und ist, mehrwertige Räume zu schaffen, also Räume, die mehr sind als nur, sagen wir mal überspitzt, Höhle oder Wetterschutz. Architektur hat sich über die letzten Jahrtausende zu einem eigenen Raum, Weltraum, Menschenraum entwickelt. Architektur ist in meinen Augen das Lebenselixier schlechthin.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2024.