Unterscheidungen helfen dabei, sich im Leben zu orientieren. Zum Beispiel: gut und böse, schön und hässlich, sauber und schmutzig, ernst und heiter. Leider werden wichtige Unterscheidungen oft nicht beachtet oder gar nicht gekannt. Zum Beispiel: jammern und klagen. Man könnte glauben, dass beide Verben Dasselbe meinten: Einem Unmut wird sprachlicher Ausdruck verliehen. Doch liegen Welten zwischen ihnen.
Was das Jammern angeht, bietet das gegenwärtige Deutschland überreiches Hörmaterial. In den Medien, im Beruf oder Alltag scheint die nölige Unmutsentladung zum Standard geworden zu sein. Ein grenzenloses Lamento über alle möglichen, wirklichen oder eingebildeten Übelstände ergießt sich über ein Land, dem es, bei Lichte betrachtet, immer noch erstaunlich gut geht. Doch darauf können sich alle sofort einigen: Es geht bergab, ist nicht mehr wie früher. Auffällig ist die damit verbundene Gedanken- und Handlungsfaulheit. Ein Nachdenken über die Ursachen der Probleme, die eigenen Anteile daran oder die Notwendigkeit von Veränderungen wird im Jammern ersetzt durch flinke Schuldzuweisungen: die da oben oder die da unten. Das dient der affektiven Entlastung. Im Jammern kann man es sich deshalb bequem machen. Wer jammert, will nichts anpacken und lösen, sondern bloß seiner schlechten Laune Luft machen, ohne zu berücksichtigen, dass dies den Umstehenden kein eben erfrischendes Geruchserlebnis beschert.
Hinter dem Jammern steht mehr als eine schlechte Angewohnheit, nämlich ein existenzielles und darin auch spirituelles Problem. Es lautet: Was haben wir noch, wenn wir weniger haben? Bisher funktionierten unsere Gesellschaft und unser persönliches Selbstverständnis über quantitative Steigerung: mehr Wohlstand, mehr Chancen, mehr Sicherheit, mehr Konsum. Doch wenn aus diesem Mehr nun ein Weniger wird, macht sich Ratlosigkeit breit. Eine innere Leere wird sichtbar. Ich erlebe das auch in meiner lieben Kirche. Leicht gingen uns früher die Predigten über die Lippen, in denen wir andere zu einer Abkehr vom Wachstumsdogma aufriefen. Jetzt verstört uns das eigene Wenigerwerden, lässt uns verzagen, manchmal in Panik geraten, unnötige Konflikte ausfechten, verstummen oder sehr häufig eben ins Jammern verfallen.
Da mag es helfen – mir selbst und anderen –, an das vom Jammern unterschiedene Klagen zu erinnern. Zum Klagen besteht in der Tat Anlass. Vieles, was nicht nur mir wichtig war, droht verlorenzugehen, weshalb Kulturpessimismus gelegentlich erlaubt sein sollte. Was bisher die Kultur in Deutschland mitgeprägt hat, ist bedroht: eigensinnige Kunst, anspruchsvolle Bildung, solider Journalismus, gute Bücher, reflektierte Debatten, aufgeklärte Religion, demokratisches Einverständnis. Wofür viele ihr Lebensengagement eingesetzt haben, könnte es bald nicht mehr geben. Das schmerzt und führt ins Klagen. Aber was ist eigentlich eine Klage?
Wer der Würde, Kraft und Schönheit des Klagens begegnen möchte, sollte zur Bibel greifen und in den Psalmen und Klageliedern, bei den Propheten und Hiob nachlesen. Hier tragen Einzelne oder Gruppen ihre Not vor Gott. Dabei gehen sie in die Tiefe und stoßen zu einer unbedingten Ehrlichkeit vor. Verlogene Selbstbilder, falsche Sicherheiten, billige Tröstungen, trügerische Scheinhoffnungen lösen sich auf. Zurück bleiben das einsame Ich und das geschlagene Volk. Wie furchtbar kreativ dies macht, zeigt die Sprache, die die Bibel dafür findet: »Ich bin wie ausgeschüttetes Wasser und wie eine zerbrochene Scherbe«, »Jerusalem ist wie eine gefallene Fürstin und wie eine geschändete Frau«. Aber auch: »Du hast dich mir verwandelt in einen Grausamen« und »Warum hast du mich verlassen?«. Biblisches Klagen ist radikal. Es wird zur Anklage Gottes, zieht in den direkten Streit mit dem Höchsten und zerbricht dabei altehrwürdige religiöse Bilder. Es ist darin auch revolutionär. Denn durch die Klage kann etwas ganz Neues erwachsen: ein tieferes Verständnis von Gott, Welt und Selbst. Das unterscheidet die biblische Klage von der deutschen Jammerei, die alles beim Alten belassen will.