Man sollte schon wissen, wo man wohnt und arbeitet. Nun hat der Deutsche Kulturrat sein Zwischenquartier am Berliner Ostkreuz – zugegeben etwas »rough« – hinter sich gelassen und ist in die Chausseestraße in Mitte gezogen. Über diese Straße gibt es viele Geschichten zu erzählen. Als ich der Buchhändlerin meines Vertrauens – »Sonnenhaus«, gleich in der Nähe, nämlich Linienstraße 100 – vor ein paar Wochen berichtete, dass ich endlich selbst eine neue Unterkunft »Ecke Chausseestraße« gefunden hätte, langte sie mit sicherem Griff ins Regal und gab mir ein frisch erschienenes Buch. Allen, die beim Deutschen Kulturrat arbeiten oder ihn besuchen, lege ich es wärmstens ans Herz. Es ist ein modernes Stück Heimatkunde und eine höchst anregende Lektüre. Man kann mit ihm in der Hand die Chausseestraße hoch- und wieder hinunterflanieren und wird aus dem Staunen nicht wieder herauskommen. 

Unter dem schlichten Titel »Chausseestraße« bietet der Journalist Holger Schmale ein Stück Berliner Stadtgeschichte im Brennglas. Ich dachte, diese Straße ganz gut zu kennen, und wurde zum Glück eines Besseren belehrt. Denn sie beherbergt nicht nur den Dorotheenstädtischen Friedhof, auf dem so manche Kulturheldinnen und -helden ruhen. Es beginnt gleich am Anfang mit dem letzten ungentrifizierten Haus der Gegend an der Kreuzung zur Hannoverschen und Torstraße. Achtlos war ich an ihm vorübergegangen, weil ich zu jung und ignorant war, um zu wissen, dass »Chausseestraße 131« der Titel einer legendären Schallplatte von Wolf Biermann aus dem Jahr 1969 ist. Hier also lebte der widerborstige Liedermacher und versammelte eine einzigartige Kunstszene um sich, bis die sozialistische Obrigkeit ihn 1976 aus dem Land warf, was langfristig zum Untergang der Diktatur führen sollte. Wer es etwas klassischer mag, kann von hier aus zur Nummer 125 gehen und das Haus von Bertolt Brecht und Helene Weigel besuchen. 

Aus der Stadtgeschichte nicht wegzudenken ist die Chausseestraße aber auch deshalb, weil nicht zuletzt hier die Berliner Industriekultur begann. Im 19. Jahrhundert nannte man diese Gegend »Feuerland«, weil sich die ersten großen Fabriken ansiedelten. August Borsig ließ hier seine Eisenbahnen bauen. Das hat er natürlich nicht, lieber Bert Brecht, allein getan, sondern mithilfe ungezählter Arbeiter, die in der preußischen Hauptstadt eine harte Heimat gefunden hatten. Emil Rathenau gründete dann hier die Deutsche-Edison-Gesellschaft, die spätere AEG. Die moderne Pharmazie wurde gleich nebenan von Ernst Schering mitbegründet. Heute gibt es in der Chausseestraße keine Industrie mehr. Aber wer über die Schlegelstraße in die sanierten Edison-Höfe geht, kann eine Ahnung davon bekommen, was hier geleistet wurde. Dass es zu DDR-Zeiten einen Grenzübergang Chausseestraße gegeben hat, wusste ich ebenfalls nicht. Doch hier wurde der letzte Schuss auf Menschen abgefeuert, die sich das Recht herausnehmen wollten, sich von ihrem Staat nicht einsperren zu lassen. Das war am 8. April 1989. Getroffen wurden die beiden Männer nicht, aber inhaftiert. Zum Glück endete der absurde Schrecken namens »Mauer« ein halbes Jahr später. Wer den Hinweisen von Holger Schmale folgt, kann aber noch Spuren der deutschen Teilung finden – wo doch heute oberflächlich alles sauber, wohlhabend und hip wirkt. Man staunt beim Lesen, welche geschichtlichen Gegensätze eine einzige Straße beherbergen kann: ein Spartakus-Denkmal, eines der ersten NSDAP-Lokale, natürlich Stolpersteine für die Opfer des Nazi-Terrors, DDR-Sportpropaganda im Walter-Ulbricht-Stadion, das neue, riesig-hermetische Hauptgebäude des Bundesnachrichtendienstes. Und sehnsüchtig liest man, was für eine lebendige Nachtszene es hier einmal gab: wie viele kleine Theater, Ballhäuser, Restaurants, Kneipen, Clubs – in buntem Reigen den Moden der Zeiten folgend. Denn da ist es leider zuletzt etwas ruhiger und langweiliger geworden. Über viele Straßen in Berlin könnte man ähnliche Bücher schreiben. Aber alle, die mit dem Deutschen Kulturrat zu tun haben, sollten damit beginnen, Holger Schmales Buch über die Chausseestraße zu lesen. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.