Ein sonniger Morgen in Tel Aviv. Reut Karp steht vor ihrem Café in einem gentrifizierten alten Viertel der pulsierenden Stadt am Mittelmeer und versucht verzweifelt zu lächeln. Sie war an jenem verhängnisvollen Morgen des 7. Oktober 2023 nicht in ihrem Kibbuz Reim, vier Kilometer von Gaza entfernt, als das Unvorstellbare geschah und palästinensische Terroristen in die Siedlung kamen. Ihre drei Kinder hatte sie bei ihrem Mann Dvir gelassen, von dem sie sich im Frühjahr davor getrennt hatte. Kurz nach dem Alarm im ganzen Land bekam sie einen Anruf von seinem Handy. »Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass nicht er es war, der mich anrief, sondern meine zweitälteste Tochter Darya. Voller Panik flüsterte sie, dass ihr Vater sich mit ihnen im Saferoom verschanzt hatte, den jedes Haus in Israel hat. Als die Terroristen in das Haus einzudringen versuchten, ging er mit seiner neuen Freundin Stav nach draußen, um die Kinder und sich zu verteidigen. Beide wurden sofort ermordet – vor den Augen der Kinder.«
Darya sagte ihrer Mutter, dass einer der Männer in den Raum gekommen sei und auf Arabisch etwas in Rot an die Wand geschrieben habe – mit Blut oder Farbe. Wie sich später herausstellte: »Der Islamische Dschihad tötet keine Kinder.« Was eine Lüge war. Aber das wusste die Mutter da zum Glück noch nicht. Ihre Kinder verschonten die Terroristen, anders als viele andere.
Drei Stunden lang telefonierte Reut Karp mit ihrer Tochter, um sie zu beruhigen, während der kleine autistische Bruder Lavi angsterstarrt daneben lag. Erst nach neun Stunden kam die Armee, um ihre Kinder und die anderen Überlebenden zu evakuieren.
Auch anderthalb Jahre nach dem palästinensischen Terrorangriff wirkt nicht nur die 43-Jährige, sondern wirken viele Menschen in Israel noch immer paralysiert – von dem Massaker, dem Bangen um die noch immer in Gaza gefangenen Geiseln, den folgenden Kriegen gegen die Hamas, die Hisbollah und Iran, von der Taten- und Ziellosigkeit ihrer rechten Regierung und dem Fehlen jeder Perspektive, wie es weitergehen soll. »Wir sind alle traumatisiert«, sagt Reut Karp mit Tränen kämpfend, während sie eine ältere Frau grüßt, die gerade vorbei geht. Deren Sohn wurde am 7. Oktober in dem Kibbuz ebenfalls ermordet, wie noch vier weitere Bewohner. »Ich muss mich jetzt um meine Kinder kümmern. Sie leben. Ich gebe ihnen meine Liebe und sorge dafür, dass sie schlafen, zu essen bekommen und zur Schule gehen. Sie erhalten auch Unterstützung von Psychologen.« Um sich selbst und anderen zu helfen und um an ihren Ex-Mann zu erinnern, hat sie das Café eröffnet. Denn er war Chocolatier. Deshalb werden dort nun Pralinen nach seinen Rezepten verkauft, unter einem Bild von ihm. Und Käse aus dem Kibbuz. »Wir versuchen, Hoffnung zu geben«, sagt Reut Karp, eine unfassbar starke Frau und Mutter.
1976 war ich das bisher einzige Mal in Israel gewesen, in einem Kibbuz von Shoah-Überlebenden. Es war ein anderes Land. Noch stark geprägt vom Aufbruchsgeist der Staatsgründer, voller Optimismus, obwohl weit ärmer als heute und auch damals umgeben von Feinden. Der Jom-Kippur-Krieg, auch er ein arabischer Überraschungsangriff, den die damalige Regierung gleichfalls hätte vorhersehen können und dessen Jahrestag die Hamas bewusst für ihre Terrorattacke nutzte, lag erst drei Jahre zurück. Israel war wie auch jetzt militärisch siegreich daraus hervorgegangen. Aber Aussichten, den ewigen Konflikt mit den Nachbarn zu lösen, gab es so wenig wie jetzt.
Wer heute nach Israel reist, begegnet einem modernen, teilweise fast US-amerikanisch wirkenden Land, sehr tech-affin, bunt und vielfältig wie kaum ein anderes. Aber gesellschaftlich, politisch und religiös tief zerklüftet. Und über allem liegt ein dunkler Schatten.
Während meines Aufenthalts vor fast einem halben Jahrhundert befreite die israelische Armee ein von Palästinensern entführtes Flugzeug in Entebbe. »Wir lassen niemanden zurück, wir holen unsere Leute raus«, sagten die Kibbuzniks bei ihrem Jubelfest. Dieses aus dem Talmud stammende Gebot hat die Regierung von Netanjahu mit seinen ultranationalistischen und strengreligiösen Koalitionspartnern nach Ansicht vieler Israelis schändlich verletzt, aus egoistischen und ideologischen Gründen. Genauso wie ihre Pflicht, die Bürger zu schützen.
Das Vertrauen, dass Israel nach 2000 Jahren Vertreibung und Verfolgung allen Juden Sicherheit bietet, der zionistische Gründungsauftrag, ist verloren. Das hat das Land und seine Menschen im Innersten erschüttert. In fast allen Gesprächen spürt man den Zorn auf den Ministerpräsidenten, der seine Schuld nicht eingesteht, der keine der Geiselfamilien besucht hat und dessen Minister Partys feiern, während nebenan Familien um ihre Toten trauern. Und Wut auf die Ultraorthodoxen, die sich mit Segen der Regierung vor dem Militärdienst drücken, um zu beten und die Thora zu studieren, während so viele Reservisten nach Gaza und Libanon mussten und Ehemänner, Ehefrauen, Väter, Söhne, Mütter, Töchter dort ihr Leben ließen. Ohne dass ihre Familien und Freunde wüssten, wofür.
Noch immer demonstrieren jede Woche Tausende im ganzen Land gegen die Regierung und für das Einhalten des Abkommens mit der Hamas, um die restlichen Geiseln zu befreien und die Kämpfe endgültig zu beenden. Aber es werden immer weniger. Denn niemand hat einen Plan für die Zeit danach, die Regierung schon gar nicht. Es gibt auch keine Alternative zu ihr. Die Opposition ist schwach und zerstritten. Es bleibt nur die vage Hoffnung, dass Netanjahu und sein Kabinett irgendwann zurücktreten müssen. Aber was dann?
»Die Gegenwart scheint aussichtslos, aber sie ist es nicht«, sagt Georg Rößler. Der Judaist, der aus einer deutschen evangelischen Pfarrerfamilie stammt, lebt seit 1988 in Jerusalem, ist mit einer Israelin verheiratet und selbst Israeli geworden. Er bietet Pilgerreisen an und hat ein kluges Buch über die Gedenkstätte Yad Vashem geschrieben, in der er lange Führungen gemacht hat, und über seine Wahlheimat, die erst lernen musste, dass sie nicht nur eine wehrhafte, aus der Asche der Shoah entstandene Demokratie ist, sondern auch ein Land der Opfer und des Leids. »Israel ist zum Frieden verdammt. Die Apokalypse des 7. Oktober lässt keinen Raum mehr für Kompromisse«, sagt der 66-Jährige und verweist auf die vielen Versöhnungsgruppen von Israelis und Palästinensern, die ihre Arbeit trotz allem fortsetzen. Doch ist das mehr als Hoffnung wider die Verzweiflung?
Ungeachtet der der nationalen Sorge um die Geiseln und der Trauer um die Toten geht das Leben in Israel weiter. Aus dem einst sozialistisch-kargen, hauptsächlich von Landwirtschaft lebenden Land ist eine erfolgreiche, technologisch führende kapitalistische Nation geworden. Dynamisch und agil, mit quirligem Nacht- und Strandleben und einer diversen, queeren Kultur- und Clubszene vor allem in Tel Aviv. Zugleich voller Widersprüche. Überall wird gebaut, werden ständig neue Start-ups gegründet. Aber am Shabbat steht das Land wegen der Ultrareligiösen weitgehend still. Tech-Jünger und Geschäftsleute mit Handy am Ohr tummeln sich neben schwarz gekleideten Frommen mit Gebetsriemen und orthodoxen Frauen mit Perücke oder Turban, die getrennt an der Klagemauer in Jerusalem oder in ihren Synagogen beten. Daneben die Araber, die oft in eigenen Dörfern und Stadtteilen leben. Und die Säkularen, die zwischen allen Stühlen sitzen.
Vor allem sie fürchten, dass Israel zu einem fundamentalistischen Gottesstaat werden könnte wie Iran. Und zu einem autoritären, illiberalen wie Ungarn. Manche denken daher darüber nach auszuwandern. Aber wohin, wo sich doch überall der Hass auf Juden ausbreitet? »Wenn ich es wüsste, wäre ich schon weg«, sagte Claude, unser Reiseleiter, in Paris geborener Sohn einer Shoah-Überlebenden und eines Kämpfers für die Unabhängigkeit.
Ella Haimi hat bei dem Terrorangriff ebenfalls ihren Mann verloren. Er war für die Sicherheit ihres Kibbuz Nir Yitzhak verantwortlich, den sein Opa mitgegründet hatte, nur 3,5 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Er wurde erschossen, als er mit einem anderen Bewohner 100 Eindringlinge aufzuhalten versuchte. Seine Leiche verschleppten sie nach Gaza und haben sie noch immer nicht herausgegeben. Im vergangenen Mai bekam sie ihr viertes Kind von ihrem Tal, sieben Monate nach seinem Tod. »Es ist ein großes Glück in all dem Schmerz. Eine Hoffnung für die Zukunft«, sagt sie. Im Sommer will sie mit ihren Kindern in den Kibbuz zurückkehren. »Das Leben in unserer Gemeinschaft muss weitergehen, in Nachbarschaft zu den Menschen in Gaza. Ich glaube nach wie vor, dass viele von ihnen mit uns in Frieden leben wollen.«
Für Reut Karp ist Aufgeben oder Abhauen genauso wenig eine Option. Im Juni will auch sie mit ihren Kindern in ihren Kibbuz zurückgehen und ihr Café in Tel Aviv in andere Hände geben. »Wir haben kein anderes Land, wo wir leben können«, sagt sie. Und dass ihr Vorname Freundschaft bedeute. »Das ist doch ein gutes Zeichen.«