Israel besteht in diesem Jahr 75 Jahre. Es ist geprägt durch die Einwanderung von jüdischen Menschen aus mehr als hundert Ländern. Zusammen mit den Traditionen im Nahen Osten vermischen sich diese kulturellen Erfahrungen und Traditionen der Herkunftsländer zu einer lebendigen, spannenden Kultur, die in ihrer Vielfalt für das Zusammenleben bestimmend ist. Von großer Bedeutung ist die Musik, von der Klassik bis zum Rock und Pop, Theater, Film und Literatur. Es existiert eine dichte Museumslandschaft von Kunstmuseen, archäologischen Museen und Geschichtsmuseen. Zahlreiche Künstler, Maler und Bildhauer, prägen die modernen Ausdrucksformen. Insgesamt entsteht aus dieser Vielfalt der Kultur eine erlebbare Lebensenergie. Zugleich erkennt man in der Vielfalt inzwischen auch Abgrenzung und Ambivalenz. Das gilt besonders für die rechtsextremen Auffassungen.

Bei der Staatsgründung Israels 1948 war die Gruppe der Ultraorthodoxen eine zahlenmäßig unbedeutende. Inzwischen gewinnt sie zunehmend an Einfluss, und von allen Minderheiten Israels wächst sie am schnellsten. Aktuell liegt ihre Zahl bei rund 1,3 Millionen. Das sind 14 Prozent der 9,5 Millionen Israelis. Bis Ende des Jahrzehnts werden es 16 Prozent sein. Die demografische Entwicklung ist ein entscheidender Faktor für die zunehmende nationalistische Prägung. Unterstützt wird diese Auffassung noch durch ein entsprechend ausgerichtetes Bildungssystem. Eine Stütze für die Extremisten ist auch die Siedlerbewegung in den besetzten Palästinensergebieten. Auch wenn die sogenannte Charedim sich noch immer zuallererst für ihre eigenen religiösen Angelegenheiten interessieren, so ist zu beobachten, dass seit den 1970er und 1980er Jahren ihre politische Bedeutung zunimmt. Bei den letzten Parlamentswahlen Im November 2022 wurde die ultrarechte Partei HaTzionut drittstärkste Partei und verhalf damit dem rechten Block zu einer deutlichen Mehrheit. Die rechtsextremen Politiker Itamar Ben-Gvir als Minister für Nationale Sicherheit und Bezalel Joel Smotrich als Finanzminister wurden Mitglieder des Kabinetts von Netanjahu. Nach Auswertung neuester Umfragen sehen sich mehr als 60 Prozent der jüdischen Israelis dem rechten Lager zugehörig. Das Wahlergebnis bildet also durchaus die politische Auffassung ab und ist kein Zufallsergebnis.

Die innenpolitischen Auseinandersetzungen der ultraorthodoxen Gemeinschaft und der säkularen Ge-meinschaft verschärfen sich deutlich. Dabei geht es um die normative Grundlage der Identität Israels. Die Charedim arbeiten gegen die liberale Verfasstheit des Staates und seiner zentralen Institutionen. Sie beanspruchen die Deutungshoheit über das Verhältnis Religion und Politik, sie wollen definieren, wer als Jude in Israel anerkannt wird. Ein weiteres Konfliktfeld sind die Sonderrechte der Charedim. Auch wenn noch nicht abzusehen ist, wie tief die Spaltung durch den ultraorthodoxen Einfluss gehen wird, so lässt sich tendenziell feststellen, dass die politische Prägung immer weniger auf Kompromiss als auf Durchsetzung der jeweils eigenen Interessen beruht. Eine entsprechend ausgerichtete Medienstruktur stärkt die rechte Auffassung. Während die Säkularen die Trennung von Religion und Staat fordern, erwarten die Charedim vom Staat die Förderung religiöser Werte. Es mehren sich die Befürchtungen, Israel befinde sich auf dem Weg zu einem »religiösen Staat«.

Die Sorge um die demokratische Verfassung führt inzwischen zu landesweiten Protesten. Besonders zeigen sich die liberalen Auffassungen in Tel Aviv als säkularer Stadt, wohingegen die orthodoxen Auffassungen in Jerusalem zu Hause sind. Insgesamt ist bei den Kultur- und Bildungseinrichtungen und in der Freien Szene eine große Verunsicherung zu spüren. Die Universitätsrektoren haben sich in einem offenen Brief geäußert. Sie befürchten eine Gefährdung der internationalen Wissenschaftsbeziehungen. Die Freiräume nehmen rapide ab. Die rechtsradikale Bewegung Im Tirtzu agitiert massiv und erreicht zunehmend Absagen von Veranstaltungen. Die Selbstzensur nimmt stark zu. Die Ministerriege hat gleich symbolträchtig erste Zeichen der Einschränkung gesetzt. So hat der Kultusminister als eine erste Amtshandlung ein neues Sportzentrum zur Förderung der Siedlungspolitik in den Palästinensischen Autonomiegebieten eingeweiht. Er hat außerdem als Losung ausgegeben, staatliche Förderung den kulturellen Aktivitäten zu entziehen, die nicht der rechts orientierten Kulturpolitik entsprechen.

Dazu muss man sagen, dass die politische Einflussnahme auf den Kulturbetrieb bereits seit einigen Jahren zu beobachten ist. Schon 2019 hatte die rechtskonservative Kultusministerin Miri Regev durch das sogenannte Loyalitätsgesetz das Streichen von Geldern für Kunstproduktionen erreichen wollen. Der Gesetzentwurf hatte landesweit zu massiven Protesten der Kulturschaffenden geführt und konnte dann wegen der vorgezogenen Wahlen nicht zur Abstimmung gebracht werden.

Aber auch ohne Gesetz wurde die staatliche Förderung immer mehr im Einzelfall vom politischen Wohlverhalten abhängig gemacht. Das Al-Midan-Theater in Haifa musste schließen, Theater in Jaffa und Tel Aviv sind von Kürzungen bedroht, beim bekannten Fringe-Theater-Festival in Akko mussten alle Aufführungen bereits vor ihrer Premiere vom Ministerium geprüft werden. Es wird erwartet, dass diese Einschränkungen nunmehr erheblich verschärft werden. Die Künstler und Kulturschaffenden haben sich bisher erfolgreich gewehrt. Die derzeitigen machtvollen Demonstrationen gehen jetzt stärker von Menschenrechts-NGOs aus, weniger von der Kunstszene. Die fast 100.000 Menschen, die Ende Januar in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem demonstrierten, wandten sich gegen die Aushöhlung der Gewaltenteilung, einer Grundvoraussetzung der Demokratie. Geplant ist eine Rechtsreform, durch die die Befugnisse des Obersten Gerichtshofes durch eine Parlamentsmehrheit überstimmt werden kann. Die Kunstszene, die durch ihre Vielfalt geprägt ist, verfügt nicht über eine gemeinsame Stimme. Sie hat aber eine gemeinsame Überzeugung. Das ist die Freiheit der Kunst. Dafür wird sie sich einsetzen, mit Argumenten und Offenheit. Ohne die Freiheit der Kunst gibt es keine Freiheit der Gesellschaft. Hier muss man abwarten, ob der wachsende Druck zu gemeinsamen Aktionen führt. Viele befürchten aber auch einen Exodus der Künstler, gerade aus der jungen Generation. Mut machen durch eine fördernde internationale Aufmerksamkeit zur freien Ausübung der Künste in Israel kann einen Beitrag leisten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2023.