Dass J. D. Vance, der nominierte Vize von Donald Trump im Rennen um das Weiße Haus, sich dem Kulturkampf verschrieben hat, kann man schon seinem Erfolgsbuch »Hillbilly Elegy: A Memoir and a Culture in Crisis« (2016) entnehmen. Eine Nummer zu groß war es Vance nicht, der keinerlei soziologischen Background hat und damals erst 31 Jahre alt war, aus seiner reichlich früh verfassten Autobiografie gleich noch eine allgemeine »Kultur der Krise« abzuleiten.

Als die »Hillbilly Elegy« im Jahr von Trumps erfolgreicher Kandidatur erschien, waren viele Leser begeistert von der Vorstellung, mit diesem Buch aus dem Mittleren Westen einen Einblick in die innere Welt von Trump-Wählern zu erhalten. Viele Implikationen für Vance’s Weltbild wurden nicht zur Kenntnis genommen. Nun, mit Vance’s Nominierung als running mate von Donald Trump, herrscht nicht nur beim Ullstein Verlag, der die deutsche Übersetzung von »Hillbilly Elegy« herausgebracht hatte, auf einmal große Bestürzung.

Aber Vance hat schon damals aus seiner Familiengeschichte die Ingredienzen für den Kulturkampf, wie ihn hierzulande auch die AfD führt, destilliert und benannt. Kurz gefasst vertritt er die Vorstellung, dass man, wenn man nur will, den soziokulturellen Aufstieg schaffen kann. Die, die ihn nicht schaffen, haben ihn nicht verdient. Beleg für seine These ist ihm lediglich seine eigene Karriere, dabei hatte er, aus schwierigen Verhältnissen in Middletown, Ohio stammend, durchaus Glück gehabt und Unterstützung erhalten.

Vance schreibt über die Bewohner der gebeutelten Städte des Rust Belts: »Es gibt hier einen Mangel an Handlungsfähigkeit (…) und die Bereitschaft, allen außer sich selbst die Schuld zu geben.« Damit impliziert Vance: Schuld sind die Leute selbst.

Geformt wurde Vance, der sich zuvor als antriebslosen jungen Mann beschrieb, bei den Marines. Hier ergibt sich eine Gemeinsamkeit mit Donald Trump: Dieser wurde vom bewunderten Vater als schwieriges Kind im Alter von 13 Jahren auf eine Militärakademie geschickt. Auch er wurde laut eigener Aussage vom Militär auf die rechte Bahn gebracht.

Die Marines ermöglichten J. D. Vance den Bildungsaufstieg über eine staatliche Uni in Ohio bis nach Yale. Dort wurde er unter anderem von der chinesisch-amerikanischen Professorin Amy Chua ausgebildet, die mit ihren rigorosen Drill-Erziehungsratgebern (die auch auf Deutsch erschienen) zu zweifelhaftem Ruf kam. Es passt zu Vance’s sozialdarwinistischem Denken, dass er von Chua stark beeinflusst ist.

Dass Vance sich nun, wo er eine gewisse politische Macht erlangt hat, aufgrund seiner Herkunft für die sogenannte Unterschicht einsetzen würde, ist ein Trugschluss und ein recht durchschaubares politisches Propagandainstrument. Mit Sozialpolitik hat Vance nichts am Hut, auch wenn er für seinen Aufstieg geschickt sein »negatives Kulturkapital« eingesetzt hat. Vance konnte sich nämlich nicht schnell genug von seiner Herkunft entfernen. Nach der Station Yale begann Vance als Risikokapitalgeber für Peter Thiel im Silicon Valley zu arbeiten. Weiter weg von kaputten Vororten im Rust Belt geht es nicht.

So ist auch bei Mitarbeitern seiner kurzzeitig 2017 gegründeten gemeinnützigen Organisation »Our Ohio Renewal« schon rasch der Eindruck entstanden, dass diese weniger dem Bundesstaat als der politischen Karriere von J. D. Vance zugutekommen sollte. Die Organisation, die den Problemen im Bundesstaat wie Drogenkonsum und Arbeitslosigkeit entgegentreten sollte, sammelte nur rund 200.000 Dollar ein und wurde von Vance 2021 schon wieder aufgelöst.

Wie sich bei Vance die Dinge verkehrt haben und dass er keineswegs ein Unterstützer der Armen ist, lässt sich auch daraus ableiten, wie sehr er nun die heile Familie, die er selbst nicht gehabt hat, zur politischen Kategorie erklärt und ideologisch im Sinne des Kulturkampfs in den USA einsetzt.

All die Patchworkfamilien, die Vance als Kind und Jugendlicher kennengelernt hat, die »verkrachten Existenzen«, LGBTQ*-Personen, gar Kinderlose (»Cat Ladies«) erscheinen ihm nun als soziokulturelle Bedrohung, die es zu bekämpfen gilt. Er wird zum rigorosen Abtreibungsgegner, überholt hier Trump von rechts. Was Bildung angeht, plädiert er für schärfere Zulassungskriterien an den Universitäten; die Leute sollen sich anstrengen und nicht auf einem Stipendium ausruhen.

Vance interessiert zudem nur die weiße Unterschicht – als hätten Amerikaner anderer Hautfarbe es eher verdient, arm zu sein. Immigranten aus Lateinamerika hält Vance für schuld an der Drogenkrise der USA. Dahinter steckt natürlich die linke, woke Elite. Laut Vance kümmert sich Joe Bidens Regierung absichtlich nicht genug um den Drogenhandel, damit Leute im Mittleren Westen an Fentanyl sterben. Denn unter ihnen sind ja viele Trump-Wähler.

Wenn man so etwas Absurdes hört, wundert man sich nicht, dass Vance wie sein Mentor und Financier, der Pay-Pal-Milliardär Peter Thiel, vor allem Fantasyromane liest.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9/2024.