Auf einer Autofahrt durch Los Angeles zeigen die Stadtplanerin Ananya Roy und der Philosoph Rainer Forst Extrempunkte der amerikanischen Gesellschaft: hier eines der teuersten Privathäuser der Welt in den Hügeln von Bel Air, dort die größte Siedlung von Obdachlosen der Vereinigten Staaten. Einst gehandelt für eine halbe Milliarde Dollar, liegt das riesige Anwesen »The One« bloß eine halbe Stunde Fahrt entfernt vom Armutsviertel »Skid Row«. 8.000 Menschen leben hier ohne festes Dach über dem Kopf, viele von ihnen Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner. Der Gegensatz beider Lebenswelten ist krass, doch die Pandemie hat ihn noch weiter verschärft. 

So erklärt Ananya Roy, wie die Mietschulden in den vergangenen Jahren explodiert sind. Monat für Monat wird ein Moratorium gegen Zwangsräumungen verlängert. Diese hängen wie ein Damoklesschwert über den knapp eine Million verschuldeten Mietern in Kalifornien.  

Aus dem kürzlich veröffentlichten »Poor People’s Pandemic Report« geht hervor, dass die Zahl der Todesfälle unter den ärmsten zehn Prozent der amerikanischen Bevölkerung zweimal so hoch ist, wie unter den reichsten zehn. Einkommensschwache Communities lehnen häufiger Impfungen ab, haben vor allem aber schlechteren Zugang zu medizinischer Grundversorgung und anderen öffentlichen Gütern. So droht die Pandemie in den USA soziale Verwerfungen zu verschärfen und das ohnehin geschwächte Vertrauen in die Regierungsfähigkeit der Demokratie weiter zu unterminieren. 

Ist die Demokratie die richtige Regierungsform für die Pandemie?  

Corona wurde in den vergangenen beiden Jahren immer wieder dazu missbraucht, um den Konflikt zwischen den verfeindeten politischen Lagern eskalieren zu lassen. Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt brachte es kürzlich so auf den Punkt: »Die Rechte habe sich so sehr bemüht, die Gefahren der Pandemie kleinzureden, dass sie die Krankheit zu einer gemacht habe, die vorzugsweise Republikaner töte. Die progressive Linke hingegen habe sich so sehr der Maximierung der Covid-Gefahren verschrieben, dass sie Fragen psychischer Gesundheit oder der Bildung von Kindern vollkommen außer Acht ließe. Angesichts dieser verfahrenen Lage mag man daran zweifeln, ob die Demokratie überhaupt die richtige Regierungsform ist, um effektiv auf die Herausforderungen der Pandemie zu reagieren. » 

So schien es zumindest zu Beginn der Seuche, als seien Autokratien besser in der Lage, durch strikte Verfügungen und ihre ebenso rigide Überwachung das Virus einzudämmen, seine Verbreitung zu verhindern und durch präzise Maßnahmen wie die rasche Errichtung von Impfzentren und temporären Krankenhäusern die gesundheitlichen Auswirkungen zu bekämpfen. Irgendwann erwies sich aber, dass zum Ersten den Zahlen und Erfolgsmeldungen nicht zu trauen war, zum Zweiten, dass das Virus mit seiner scheinbar unbegrenzten Transformationsfähigkeit allen Maßnahmen trotzte. Dennoch schienen Demokratien im Nachteil: Die Unmöglichkeit »einfach durchzuregieren« verlangsamte Prozesse, und die Vielfalt der Maßnahmen rief Desorientierung und Verwirrung hervor und forderte Protest und Widerstand heraus.  

Die amerikanische Tragödie  

Nach zwei Jahren Krise und Berichten über das rücksichtslose Coronamanagement Chinas scheint es im amerikanischen Diskurs weniger um den Gegensatz zwischen Demokratien und Autokratien, als vielmehr um die Frage zu gehen, was Demokratien widerstandsfähig macht und befähigt, angemessen auf Krisen wie die gegenwärtige Pandemie zu antworten.Was die amerikanische Tragödie lehrt, ist, dass Wahlen allein keine demokratische Politik verbürgen und allein noch kein politisches Handeln zu legitimieren vermögen. Es braucht vielmehr demokratische Willensbildung, die staatliche Maßnahmen immer wieder rechtfertigt, und öffentlich finanzierte, aber überparteilich legitimierte Institutionen, die den Interessen eines Gemeinwohls jenseits der laufenden Legislaturperiode verpflichtet und zu effektiver Regierungsführung fähig sind.  

Um das Handeln jener Institutionen wirksam werden zu lassen, ist Vertrauen die entscheidende Währung. Wie etwa Jürgen Habermas unterstrich, ist der Staat unter den Bedingungen der Pandemie in besonderer Weise auf die Kooperation der Bevölkerung und solidarische Leistungen von verschiedenen, teils ungleich belasteten Gruppen angewiesen. Dieses notwendige solidarische Verhalten sei getragen, »von dem reziproken Vertrauen auf die Bereitschaft des Anderen, sich in Zukunft ebenso zu verhalten, sobald sich eine ähnliche Situation mit anderer Rollenverteilung ergeben sollte.«  

Doch das öffentliche Vertrauen in den Vereinigten Staaten ist schwer angegriffen. Laut einer Erhebung des Pew Research Centers traute im vergangenen Jahr bloß noch ein Viertel der Amerikaner ihrer eigenen Regierung. Ganze 70 Prozent befürchten ein totales Scheitern ihres Staates. Auch das Systemvertrauen zu Wirtschaft, Wissenschaft und Medien ist in hohem Maß erodiert. Das fehlende Vertrauen ist damit nicht nur zu einer Herausforderung für die erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie, sondern auch für die Demokratie selbst geworden.  

Auf der Suche nach möglichen Wegen aus dieser Misere erfahren in den USA jüngst sogenannte »Citizens’ Assemblies« wachsendes Interesse. Die Idee ist simpel: Bürgerinnen und Bürger werden per Zufall und auf Zeit ausgewählt, um sich gemeinsam mit einem politischen Problem, wie etwa dem Gesundheitswesen, auseinanderzusetzen. Zentrale Merkmale der Bürgerräte sind die Prozesse des Informierens, der gemeinsamen Beratung und Entscheidung. Schon vor Jahren wurden mit diesem Format positive Erfahrungen in Texas gemacht, wo mehrere Versammlungen durchgeführt wurden, um über die Energieversorgung zu entscheiden. 2019 trafen sich 500 Amerikanerinnen und Amerikaner im Rahmen des Projekts »America In One Room«, um über Themen wie Gesundheit, Außenpolitik oder Umwelt zu beratschlagen. Seit vergangenem Jahr gibt es gar eine »Global Assembly«, die sich mit politischen Fragen globaler Reichweite beschäftigt.  

Radikale Demokratieerfahrungen  

Die theoretische Fundierung der »Citizens‘ Assemblies« findet sich unter anderem in der radikalen Demokratie, einem beinahe vergessenen Konzept. Demokratie wird dabei nicht als Prozess der Vereinheitlichung gedacht, die immer mit Exklusion einhergeht, sondern wie Hannah Arendt es beschreibt als Bemühen, den unterschiedlichen Vielen Raum zu geben und deren Diskurse zu moderieren. Es ist das Gegenmodell zu populistischer Politik, die auf Konzepten der Gleichartigkeit, der Gemeinschaft und auf Praktiken der Exklusion fußt: Es wird auf manipulative, wenn nicht gewalttätige Art und Weise »das Volk« mit dem in Übereinstimmung gebracht, was die Absichten der jeweiligen Regierung bzw. ihrer populistischen Gallionsfigur ausmacht. Demgegenüber verunmöglicht radikale Demokratie die Zementierung einmal gezogener Konfliktlinien: Wer für das bedingungslose Grundeinkommen votiert, votiert nicht automatisch für Kernkraft oder die Anhebung der Kontingente für Immigrantinnen und Immigranten. Radikale Demokratie kommt möglicherweise tatsächlich dem Ideal des Politischen nahe, auf das sich Chantal Mouffe und andere in der Nachfolge von Arendt bezogen und das der Praxis der Politik, zumal populistischer Politik, entgegensteht.  

Viele US-amerikanische Bürgerinnen und Bürger werden einer solchen Einschätzung nicht zustimmen, aber ohne die Wiederherstellung eines »sensus communis«, eines Gemeinsinns, der bei der Formierung der eigenen Meinungen, Absichten, Programme und Strategien auch die Gegenstimmen mitbedenkt und mitberücksichtigt, wird die US-amerikanische Gesellschaft eine nochmalige Zerreißprobe wie die Coronapandemie nur unter noch größeren Opfern überstehen. Das wahre Paradox liegt ja darin, dass der Fetisch der Einheit Spaltung produziert, wohingegen die Kenntnisnahme der Tatsache, dass Aufgabe der Politik die Moderation der Interessen der unterschiedenen Vielen ist, die Möglichkeit zu Einheit gerade erst herstellt. Einheit ist keine Frage der Einheitlichkeit, sondern eine der Solidarität. Diese aber ist immer zuerst eine Aufgabe. Und sie ist immer Solidarität mit dem Anderen. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2022.