Das Germanische Nationalmuseum (GNM) in Nürnberg zeigt in einer spannenden Ausstellung »Geschichten und Zukunft der Migration«. Ist das überraschend für ein Museum mit diesem sperrigen Namen? Erwartet man hier nicht eher eine Fokussierung auf das Nationale, das Deutsche? Ist das Thema Migration überhaupt ein Thema für Museen? Betrachtet man die Gründungsgeschichte des Germanischen Nationalmuseums, so erfährt man, dass das Museum eng verbunden mit der deutschen Demokratiebewegung und der Versammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848 war. Vier Jahre danach – 1852 – wurde es gegründet, unter anderem als Reaktion auf das Scheitern des demokratischen Ansatzes. Damit vermittelt dieses Museum nicht nur ästhetische Kategorien, sondern bezieht sich auf einen gesellschaftspolitischen Ansatz.

Das GNM, das sich dem deutschsprachigen Kulturkreis verpflichtet sieht, hat vom Sammlungskonzept Zeugnisse über weite geografische Räume erworben und bewahrt, es erzählt und dokumentiert die wechselseitigen Einflüsse. Die Migration von Menschen und Ideen gehört seit jeher zum menschlichen Erfahrungshorizont. Für Museen war aber Migration lange Zeit ein nachgeordnetes Thema. Museen sind jedoch transitorische Einrichtungen. Die Interpretation der Sammlungen nimmt immer wieder neue Blickwinkel auf, abhängig von den gesellschaftlichen Themen und den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ein Museum ist nicht monokausal. Durch das jeweilige Arrangement können Blick und Gegenblick entstehen.

Mitte 2022 waren dem UN-Bericht zufolge weltweit 103 Millionen Menschen auf der Flucht. Zu der unfreiwilligen Migration kommt die Zahl der freiwilligen Wanderbewegungen. Es ist also ein großes gesellschaftliches Thema. Da unser menschliches Zusammenleben eine kulturelle Leistung ist, kann das Museum über eine faktenbasierte Auskunft hinaus mit Metaphern, Symbolen, Emotionen und poetischen Bildern Perspektiven eröffnen und Zusammenhänge herstellen, die ein überraschendes und erweitertes Verständnis ermöglichen. Ein so kontroverses und vielschichtiges Thema wie Migration gehört in ein Museum.

Die europäische Kultur beruht auf dem Austausch von Wissen, Kulturtechniken und Objekten aus den verschiedenen Kulturkreisen. Kulturen sind immer Teil auch von anderen Kulturen. Es gibt keine reinen Kulturen, aber es gibt Traditionen. Das GNM stellt sich damit in die Tradition einer europäischen Migrationskultur. Deshalb ist es nicht überraschend, dass gerade diese Ausstellung dazu beitragen will, Migration nicht nur als Krise oder Bedrohung wahrzunehmen, sondern als eine Grundbedingung für die Entwicklung und den Fortbestand des Lebens und der Menschheitsgeschichte. Migration kann zu einer wesentlichen Triebfeder von Kunst und Kultur werden.

Goethe liefert uns dazu selbst die geistigen Vorgaben, wenn er im 2. Heft seiner Zeitschrift »Über Kunst und Alterthum« schreibt: »Vielleicht überzeugt man sich bald, dass es keine patriotische Kunst und Wissenschaft gebe. Beide gehören, wie alles Gute, der ganzen Welt und können nur durch allgemeine, freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden.« Das ist eine erstaunlich moderne Einstellung. Noch im 19. Jahrhundert und weitgehend auch im 20. Jahrhundert ist die Vorstellung einer nationalen Kultur als Grundlage einer homogenen Gemeinschaft üblich. Die nationalisierte und ethnisierte Kultur wurde zum Bestandteil der Nationalstaaten. Die Wanderbewegungen durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert mit dem dadurch bedingten massenhaften Zuzug von Menschen aus anderen Ländern und auch die Auswanderungswellen von Europa in die USA intensivierten die Fragen der Migration. Heute hat die Globalisierung durch die Ökonomie und Modernisierung nicht zu einer einheitlichen Welt geführt, sondern im Gegenteil zu einer Re-Segmentierung, nicht zuletzt ausgelöst durch industrielle Formen der Arbeitsteilung und dem Entstehen hoch industrialisierter Zentren mit schnellem Wachstum neben unproduktiven Wüsten. Das alles hat die Migration anschwellen lassen. Es sind unterschiedliche Faktoren, warum sich Menschen auf den Weg machen: Armut, Diskriminierung, Krieg oder Naturkatastrophen, es locken gute wirtschaftliche Möglichkeiten, Sicherheit, gesellschaftliche Akzeptanz und persönliche Freiheit. Mit dem Prozess der Wanderungen und des Austausches werden auch die Kulturen mobil und Bestandteil einer neuen kulturellen Beziehung. Diese Beziehung wird weder durch ein nationales Einheitsmodell noch durch ein Integrationsmodell beschrieben, es entsteht vielmehr eine kulturelle Vielfalt.

Deutschland ist inzwischen offiziell Einwanderungsland, nachdem schon mehr als 50 Jahre Arbeitsmigration und Aussiedlerzuwanderung ohne adäquate Regelungen stattgefunden hat. Ein öffentliches Bewusstsein darüber, wie Migration die deutsche Kulturlandschaft insgesamt verändert, fehlt indes noch immer. Deutschland ist nicht nur ein Zuwanderungsland für qualifizierte Fachkräfte. Es gibt längst Musiker, Schriftsteller, Filmemacher und Bildende Künstler, die sich ganz selbstverständlich als Teil der deutschen Kultur verstehen und zur Vielfalt beitragen. Beispielhaft sind hier die Schriftsteller zu nennen, die sich nicht mit einem Sonderstatus Migrantenliteratur zufriedengeben, sondern für die nur die literarische Qualität zählt. Ann Cotton, Saša Stanišić, Terézia Mora oder Feridun Zaimoglu sind wichtige prominente Stimmen der deutschsprachigen Literatur, die sie mit neuen Bildern, Metaphern und Themen bereichern.

Gerade die zweite Generation der Einwanderer artikuliert sich inzwischen offensiv im öffentlichen Raum und sieht die Kultur als gestaltendes Element. Musiker, Filmemacher und Literaten sind ihre Sprachrohre. Der deutsch-türkische Hip-Hop und Rap hat längst Entwicklungen genommen, die auch beim deutschen Publikum als musikalische Avantgarde gelten. Diese Jugendkultur findet ihre Entsprechung auch auf der europäischen Ebene, in Italien oder Frankreich, wo die jeweiligen Migrationsgeschichten in die Jugendkultur eingeschrieben werden. Es ist eine Entwicklung jenseits der Multikulturnostalgie, sie zeichnet sich vielmehr durch Eigenproduktionen aus. Sie drückt ein Lebensgefühl aus und verfügt deshalb über eine eigene Dynamik.

Es muss heute darum gehen, für unsere Kultur keine falsche Ausschließlichkeit zu postulieren, nicht Reservate zu schützen, sondern Entwicklungen aufzunehmen und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Dazu gehört auch eine Kultur der Teilhabe. Migration der Kulturen wird nicht dadurch beschrieben, dass die Integration folgenlos für die Mehrheitskultur geschieht als eine Art Ghettostruktur und auch nicht dadurch, dass eine unreflektierte Aneignung erfolgt, sondern ein Referenzrahmen für eine verantwortungsbewusste Entwicklung besteht, die auf verbindlichen Werten von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit beruht. Die Deutschen haben sich immer wieder in Grundsatzdebatten über ihre eigene Kultur geübt: Kulturnation, Nationalkultur, Leitkultur, kulturelle Identität. Grundsatzdebatten helfen hier nicht. Migration der Kulturen lässt sich gesellschaftspolitisch nur dann gestalten, wenn sie nicht durch eine Position der Diskriminierung belastet und durch eine Überforderung der Lebenswirklichkeit erschwert wird. Dann kann man von Kultur der Migration sprechen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.