»Zensur« ist die erste und die zentrale Frage, die bei und an allen Gesprächen nach meinen gelegentlichen Lesungen und Vorträgen aufgeworfen, mir stets während Interviews mit Medien gestellt wird. Vor allem im deutschsprachigen Raum, aber nicht selten im Iran selbst, in meinem Land, Land der Zensur.
Die Kernfragen, hier, lauten: »Wie vollzieht sich die Zensurprozedur und welche Institutionen sind daran beteiligt?«, »Werden nur Printmedien zensiert?« und »Gibt es eine Art Zensurkodex?« Ich habe vorbereitete Antworten darauf: »Angeblich besitzt die Zensurbehörde Selbständigkeit, aber in der Tat bekommt sie Anweisungen von höheren Stellen.« – Im Fall meines verbotenen Romans wurde mir durch einen Bekannten bei dieser Behörde mitgeteilt, wir hätten nichts gegen deinen Roman, die Direktive sei von höheren Stellen hier gelandet! – Und: »Alle künstlerischen, literarischen, kulturellen Produkte müssen bei dieser Behörde eingereicht werden« sowie »Ja und nein, Islam und die Obrigkeit sind rote Linien, aber im Laufe der Jahre wissen wir, dass viele Entscheidungen dort mehr personenabhängig getroffen werden«.
Aber aus einem iranischen Publikum kommt meistens eine Frage, die schmerzt: »Und was ist mit Selbstzensur? Wie weit zensierst du dich beim Schreiben? Oder wenn du ein literarisches Werk suchst zum Übersetzen?« Diese Frage, oder besser: Feststellung, schmerzt! Zweifellos kontrolliert sich ein Künstler, während er an einem Werk arbeitet; er versucht etwa, das Gleichgewicht zwischen Form und Inhalt herzustellen oder eine geeignete künstlerische Sprache zu finden. Auch wenn der Großmeister Gerhard Richter sagt: »Das Denken ist beim Malen das Malen«, und die Kunst schaffe sich selbst, steht trotzdem ein Künstler während seines Schaffensprozesses unter eigener Kreativitätskontrolle. – Ich male auch, deshalb Richter! – Selbst diesen Beitrag schreibe ich ja kontrolliert, versuche, das zu schreiben, was richtig trifft, meine unterschiedlichen Ideen und Gedanken zu ordnen, nicht länger, als die vorgeschlagene Zeichenanzahl zu schreiben.
Aber diese Frage aus dem Publikum schmerzt, weil sie dich daran erinnert, dass du als Künstler unter Zensur einen beachtlichen Teil deiner schöpferischen Kraft dazu verschwendest, ebendiese so im Zaum zu halten, damit dein Werk letztendlich unversehrt durch die Zensurbehörde geht; die Frage schmerzt, weil sie dich daran erinnert, dass das berühmte, hier vielleicht »unbewusste« Damoklesschwert nicht über, sondern in deinem Kopf hängt, und weil du weißt, dass laut C. G. Jung »das kollektive Unbewusste Teil der Psyche ist, der von einem persönlichen Unbewussten dadurch negativ unterschieden werden kann, dass er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist«.
Meine ersten Erfahrungen als Übersetzer und Schriftsteller sammelte ich als Student in Deutschland. Unter anderen Bedingungen. Das war vor der islamischen Revolution im Iran, auch damals galten dort restriktive Bestimmungen für künstlerisch-literarische Arbeiten, aber milder als die jetzigen. Ich hatte kein Schwert im Kopf. Sehr bald aber bekam ich es, schon vor der Revolution. Das ist eine andere Geschichte.
Seit Mai 2021 sitze ich als Stipendiat der Martin Roth-Initiative in Berlin. Im Laufe der letzten Jahre, besser Jahrzehnte, habe ich mich oft in Deutschland aufgehalten; keine – abgesehen von meiner Studienzeit – längeren Aufenthalte, aber immerhin genug Zeit, um auch hier Erzählungen zu schreiben, zu übersetzen. Eine Erfahrung, die stets eine innere Auseinandersetzung hervorruft. Wie jetzt, seit Mai 2021, während meines längsten Aufenthalts in Deutschland nach meiner Studienzeit. Ich schreibe und übersetze »bewusst« über meine Lage, die keine hoffnungsversprechende ist.
Und was soll »bewusst« hier heißen? »Bewusst«, zum einen, über meine Lage. Das Stipendium läuft bald ab, ich sehe wenig Chancen, weiter hierbleiben zu können, muss zurück in die Lage, aus der ich – dank der Unterstützung der Martin Roth-Initiative – für einen bestimmten Zeitraum hinausgeschlüpft bin; eine Lage, die sich inzwischen nicht nur im Allgemeinen, sondern auch für mich persönlich, bedrohlicher verschlechtert hat. Und trotzdem schreibe ich hier und ignoriere das Schwert.
Und zum anderen: Bewusst über meine Erfahrungen, die sich – ich wiederhole mich – aus der Situation eines Künstlers aus einer Region ergeben, in der Zensur in alle erdenklichen Lebens- und Arbeitsbereiche eingreift. Heute gibt es leider viele solche Regionen. Aber gleichzeitig glaube ich, dass in meinen Erfahrungen und Überlegungen Gemeinsamkeiten stecken – mit denen der anderen Künstler im Exil aus den Ländern, wo Zensur keine Allmacht ist, und vor allem in politischen Domänen das Sagen hat.
Ein wichtiger Wendepunkt für einen Künstler im Exil ist die Erkenntnis und Entdeckung der Reichweite seiner Kreativität und zugleich die Konfrontation mit dieser. Ein Schriftsteller, der sich jahrelang zensiert hat, manche Themen für Tabus gehalten, sich sogar von gewissen literarischen Strömungen entfernt hat, erkennt nun in der neuen Umgebung Dimensionen seiner Kreativität, die er bis dahin, bewusst oder unbewusst, hat ignorieren lassen. Durch die Arbeit in der neuen, sicheren Umgebung verliert er seine Beklommenheit, bekommt einen weiteren Raum für seinen kreativen Prozess, begreift, dass er die Fähigkeit besitzt, an verschiedenen Themen und Motiven zu arbeiten, die Fähigkeit, Charaktere und Protagonisten aus allen gesellschaftlichen Lebensbereichen in seinen Erzählungen zu erschaffen und zu entwickeln. Vorstellbar, dass es ihm nie gelingt, im Exil einen Roman, eine Erzählung zu veröffentlichen, aber er wird diese Selbstgewissheit haben, dass er »schreiben« kann.
Aber er wird auch mit Herausforderungen konfrontiert sein: In welcher Sprache muss er schreiben? In seiner Muttersprache? Dann muss er übersetzt werden. Das Werk eines Schriftstellers ist eine Kombination von Form, Inhalt und Sprache. Durch die Übersetzung geht die Sprache und damit ein Teil der Form verloren. In der Sprache des Gastlandes? Wenn auch, dann wird sein Werk im Endeffekt das Werk des Lektorats sein. Welche Themen soll er literarisch bearbeiten? Wie die Mehrheit der im Exil lebenden Schreiber soll er »seine Heimat« immer und immer in seinen Werken wiederholen? Er kennt inzwischen den deutschsprachigen Buchmarkt und die Werke der Exilliteraten, kennt inzwischen das, was deutsche Verleger von diesen Schreibern verlangen. Darf er ein Thema literarisch behandeln, das nicht »exotisch« anmutet?
Wann fühlt sich ein Exilant imstande, über sein Gastland zu schreiben? Wie lange braucht man, bis man das Gefühl hat, im Exil angekommen und sich richtig eingelebt zu haben? Wann steht der Exilant nicht mehr zwischen zwei Welten?
Wann hat ein Schriftsteller im Exil die Bereitschaft, sich von Exotismus zu befreien? Nicht mehr immer und wiederholt über seine Heimat, seine Vergangenheit, die vergangenen Menschen und Ereignisse zu schreiben? Wann hört er auf, nur über heimatliche Traditionen, Bräuche, Küche, über seine Großmutter, erlebte politische Ereignisse, Verfolgungen, Geheimdienste, Folter, Diktatoren zu erzählen?
Oder – der Gedanke schmerzt! – handelt er im Rahmen der deutschen Verlagsstrategien? Schreibt er, was die hiesigen Verlage von ihm erwarten?
Und das schmerzt auch! Obwohl in diesem Beitrag »Künstler« auch für Literaturschaffende steht, sind aber in der Realität und einem Punkt die Prosaschreiber im Exil im Vergleich zu den Künstlern in anderen Kategorien im Nachteil! Egal, ob ein Prosaschreiber in seiner Muttersprache schreibt oder auf Deutsch, ob ihm, wie vielen anderen Exilschriftstellern, seine Heimat mit ihrer Geschichte, ihren Menschen, ihren ethnischen, religiösen Bräuchen und Traditionen, mit ihren politischen und gesellschaftlichen Geschichten und Unikaten als Inspirationsquellen dienen, oder ob er, unabhängig von diesem Exotismus Romane und Erzählungen auf einem internationalen Niveau schreibt: Der Weg zu einem deutschen und deutschsprachigen Verlag ist viel länger und kurvenreicher als der Weg in eine Galerie, in ein Theater, in ein Filmstudio. Die Barrieren im Weg zu deutschen Verlagen zu überspringen, ist ein Kapitel für sich. Und eben fällt mir auf: Kapitel und Schwert haben denselben Artikel!