A m 28. Dezember 2021 wurde auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft die bekannteste Menschenrechtsorganisation Memorial aufgelöst – ein willkürlicher Akt ohne rechtsstaatliche Grundlage. Memorial wurde vor mehr als 30 Jahren gegründet, um die Geschichte der sowjetischen Unterdrückung unter Stalin zu dokumentieren. An ihrem Beginn standen Persönlichkeiten wie Andrej Sacharow oder Sergej Kowaljow. Das heutige Gesicht wird entscheidend geprägt durch den Vorsitzenden Jan Ratschinskij und durch Irina Scherbakowa.

Durch Zeugenbefragungen im ganzen Land, Protokollen von Opfern und dem Auswerten von Archivmaterialien aus Lagern und Geheimdienstquellen entstand ein unbestechliches Archiv, Russlands Gedächtnis und Gewissen, die einzige Chance, die tabuisierte Zeit der Vergangenheit der heutigen Generation zugänglich zu machen. Neben der historischen Aufarbeitung tritt Memorial auch für die Einhaltung der Menschenrechte ein und sorgt für die Überlebenden des sowjetischen Gulag. Memorial engagiert sich auch für die Aufklärung der heutigen Repressionen. Erfasst werden auch Menschen, die aus politischen Gründen verfolgt werden. Putin selbst nannte Memorial kürzlich eine »terroristische und extremistische Organisation« und setzte damit die politische Vorgabe für den Prozess. Gegen das jetzige Urteil gab es heftige Kritik im Ausland und in Russland selbst. In Deutschland erklärten die Erinnerungsorte ihre Solidarität. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich entsetzt. Die Bundesregierung prangerte die Liquidierung von Memorial als Verstoß gegen das gemeinsame europäische Selbstverständnis an. Vertreter von Memorial wollen ihr Anliegen vor dem Europäischen Gerichtshof vortragen. Letztlich geht es den russischen Machthabern darum, die Deutungshoheit der Geschichte der Sowjetunion im Sinn einer ausschließlich ruhmreichen Vergangenheit zu nutzen und ein Gedenken an die Opfer der sowjetischen Herrschaft strikt zu unterbinden. Offensichtlich hat sich Russland im Kreis bewegt und ist wieder in frühere Verhaltensmuster zurückgekehrt.

Es lohnt ein Blick auf die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Russland und Deutschland erlebten im kulturellen Austausch eine regelrechte Aufbruchstimmung, die sich aus der Neugier auf neue künstlerische Entwicklungen speiste. Es kam zu Kooperationen und Koproduktionen. Die Verflechtung fokussierte sich zunächst auf die Hauptstädte Berlin und Moskau. In der Bildenden Kunst gab es unter anderem 1995 die große Ausstellung »Berlin-Moskau/Moskau-Berlin 1900-1950«, dann folgte 2003 die Zeit von 1950-2000, jedes Mal grandiose Erfolge. 2007 konnte in Moskau und St. Petersburg die faszinierende Merowinger Ausstellung gezeigt werden, die gemeinsam auch die Frage der Beutekunst thematisierte. 2012 wurde eine Retrospektive von Joseph Beuys in Moskau eröffnet, mit einem überwältigenden Besucherandrang.

Schon 1992 eröffnete das erste Goethe-Institut in Moskau, 1993 folgte das Institut in St. Petersburg und 2008 konnte in Nowosibirsk das dritte Institut gegründet werden. Kulturdialog und zivilgesellschaftliche Partnerschaften sind nicht nur gedacht für die Schönwetterperioden, im Gegenteil. Letztlich ist unser menschliches Zusammenleben eine kulturelle Leistung. Jede freie Idee, die in die russische Gesellschaft vermittelt wird, ist ein Hoffnungsschimmer.  Deshalb muss ein Weg gefunden werden, der ein kritisches und fantasievolles Gespräch ermöglicht, der starre Klischees und Ressentiments hinterfragt, der Menschenrechtsverletzungen benennt und der Öffnung und Kooperation ermöglicht.

Russland gehört zu den Ländern mit den meisten Deutschlernern, mehr als zwei Millionen sind es, bei steigender Zahl. 40 Prozent aller Schulen bieten Deutsch als Pflichtfach an. Für Studierende aus Russland bleibt Deutschland ein attraktives Studienland. Und für die Kulturangebote gibt es traditionell noch immer ein ungebrochen großes Interesse. Das ist ein wichtiges Potenzial, um Stillstand, Abschottung und Blockaden zu hinterfragen und damit eine Öffentlichkeit zu schaffen. Kunst und Kultur kann zur Empathie erziehen.

Und so war es nur richtig, erneut 2021 ein Deutschlandjahr in Russland zu organisieren, mit dem die wechselseitigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland thematisiert werden konnten, insbesondere mit Jugendkonferenzen aktuelle Fragen wie Klimaschutz, Medienkompetenz und Gleichstellung anzusprechen. Die Eröffnungen waren auf russischer politischer Seite sehr gedimmt und schmallippig. Das Publikum hat trotz der zurückhaltenden offiziellen Haltung russischer Repräsentanten vielfältig von den kulturellen Angeboten Gebrauch gemacht. Mit dieser Neugier des Publikums und der gemeinschaftlichen Arbeit der Künstlerinnen und Künstler sowie Kulturakteure in den Institutionen wird eine Lerngemeinschaft gebildet, die etwas bewegen kann. Der Erfolg ist nicht garantiert, aber ohne Kulturdialog geht es auf keinen Fall.

Die Institution Memorial hat für die deutsch-russischen Beziehungen eine große Bedeutung. Es bedarf in diesen schwierigen politischen Zeiten einer verlässlichen Beziehung, mit der Menschlichkeit und gegenseitige Achtung gestaltende Elemente sind. Kultur kann dafür eine Grundlage sein.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.