In Israel herrscht seit Wochen ein Bürgerkrieg. Ziel der demokratisch gewählten Regierung ist ein Regimewechsel, von einer formalen fragilen Demokratie zu einem religiös untermauerten illiberalen Staat. Die Regierung, die das Land seit Ende Dezember regiert, ist eine Koalition aus vier Parteien, ein Konglomerat aus rechtspopulistischen, rechtsextremen und orthodoxen Parteien. Sie haben eine knappe Mehrheit von 64 Sitzen der 120 Parlamentarier errungen. Seit Beginn der Legislaturperiode sind diese vier Parteien mit nichts anderem beschäftigt, als die israelische Jurisdiktion zu »reformieren«, wie sie es ausdrücken. Es geht aber in erster Linie darum, das Oberste Gericht zu entmachten, es der Regierung unterzuordnen, die gerichtliche Rechtskontrolle über die Erlassung von Gesetzen abzuschaffen und die obersten Richter durch die Regierung selbst zu ernennen. Dahinter verbirgt sich mehr, als nur das Gerichtswesen zu reformieren. Es geht auch um mehr, als den Regierungschef Benjamin Netanjahu zu schützen, der sich wegen Korruption verantworten muss. Es geht darum, eine nicht liberale, undemokratische, klerikale Weltanschauung im Land per Gesetz zu institutionalisieren, ohne dass diese Gesetze in irgendeiner Form kontrolliert werden können. Die Gewinner der Wahlen machen keinen Hehl aus ihrer Absicht. Sie wollen die Gewaltenteilung abschaffen, die Medien unter ihre Kontrolle bringen, Kultur und Wissenschaft ihren Ansichten unterwerfen und auch die seit 1967 besetzten Gebiete annektieren. Sie planen eine Mischung aus Populismus und Gottesstaat. All das wird mit dem Gewinn der Wahlen legitimiert. Die Mehrheit hat recht.
Für diejenigen, die nun in Israel triumphieren, macht formale Demokratie wenig Sinn. Es geht ihnen eher darum, ihre Weltbeschreibungen brachial durchzusetzen. Es geht ihnen um den permanenten Ausnahmezustand, und deshalb ist die Aussetzung des Rechtsstaates ein offen erklärtes Ziel. Diese Aussetzung des Rechts wurde jenseits der Grünen Linie in den 1967 eroberten Gebieten schon zum Normalzustand. Das gilt besonders für den wohl wichtigsten Partner in der Koalition, der Partei des »Religiösen Zionismus«, eine Zusammenfindung von jüdischen Fundamentalisten, Homophoben und Rassisten, die die Diskriminierung von Menschen, die nicht so wie sie sind, auf ihre Fahnen schrieben. Und die Eiferer der Partei des »Religiösen Zionismus« sehen ihre Zeit gekommen. Bis vor Kurzem waren sie in der politischen Landschaft Israels eine marginale Erscheinung, die vor allen Dingen in den besetzten Gebieten ihre Anhänger hatte. Nun haben sie es bei den letzten Wahlen in den israelischen Mainstream geschafft, mehr als zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler mobilisieren können. Sie triumphierten mit einer Politik der Angst, mit der man immer und überall gewinnen kann. Sie haben nun sowohl das Ministerium für Nationale Sicherheit als auch das Finanzministerium inne. Damit führen sie auch die beiden orthodoxen Parteien in der Regierung vor. Diese waren eigentlich bisher nur daran interessiert, ihre kulturelle Autonomie zu bewahren und eine Politik für die Interessen ihrer Gemeinschaften zu verfolgen. Nun müssen sie der hyperaktiven rechtsradikalen Partei hinterherlaufen, die eine größere Agenda hat, nämlich Israel von den besetzten Gebieten aus zu regieren. Die Stadt Tel Aviv ist dieser Partei ein Gräuel und Teufelswerk, hedonistisch, kapitalistisch, queer und nicht jüdischer Kunst, Kultur und Wissenschaft verpflichtet, steht Tel Aviv für das, was sie im Prinzip abschaffen wollen.
Aber nicht nur das ist der Grund, warum seit Januar 2023 jeden Samstagabend Hundertausende Menschen auf die Straße gehen. Sie verteidigen ihre Lebenswelten, und sie schwingen die israelische Flagge. Es ist ein Aufstand derjenigen, die die Wahl verloren haben, Patrioten, die zur israelischen Mittel- und Oberschicht, zu den Eliteeinheiten, zu den tragenden Säulen der Wirtschaft, Kultur und Armee gehören. Sie kämpfen gegen die von ihnen empfundene Verletzung des Sozialvertrags, der in Israel lange herrschte. Dieser Vertrag versprach die Existenz eines liberalen Israels neben der Besatzung, das Versprechen, dass es immer wirtschaftlich bergauf gehen wird, da neben der Existenz einer hyperkapitalistischen Gesellschaft auch vorkapitalistische Strukturen existieren, die vom Staat mitgetragen werden. Dazu gehören auch die Institutionen der Orthodoxen. Dieser Vertrag versprach also die Aufrechterhaltung orthodoxer vormoderner Gemeinschaften inmitten postmoderner gesellschaftlicher Strukturen. Es war der Vertrag, der Israel als sowohl jüdisch als auch demokratisch versteht. Es geht also um so viel mehr als um den Umbau der Jurisdiktion, die versuchte Abschaffung der Gewaltenteilung und die Aushebelung des Obersten Gerichts. Das liberale Israel sieht diese unabhängige Jurisdiktion als Garant ihrer Lebensauffassung. Viele liberale Israelis haben die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften in Israel zwischen den verschiedenen Gruppen akzeptiert, solange sie ihr individuell gewähltes Leben haben führen können. Und sie waren bereit, für dieses Land zu kämpfen.
Das liberale Milieu Israels will sich diesen von ihnen empfundenen Übergang in der Politik von einer Demokratie zu einer religiösen und rassistischen Diktatur nicht gefallen lassen. Es geht um mehr als um einen wahrgenommenen Kulturkampf. Konservative staatstragende Menschen sind auf der Straße, die Eliteeinheiten des Militärs denken laut darüber nach, ob sie nicht den Dienst verweigern sollen. Mobile Hightechunternehmen planen, ihre Geschäfte ins Ausland zu verlegen. Der Chef der Zentralbank erhebt seine warnende Stimme. Ehemalige Generäle und Geheimdienstler warnen vor dem Verlust der Wehrhaftigkeit des Landes. Dann warnte sogar der Verteidigungsminister Joav Galant vor dem Verlust der israelischen militärischen Standhaftigkeit. Die Reaktion Netanjahus war, ihn zu entlassen. Es ist die staatstragende Elite, die einen zivilen Gegenputsch gegen die staatszersetzenden Kräfte der Rechtsextremen organisiert. Und die Feinde Israels hören auch sehr aufmerksam zu, wenn viele Menschen in Israel nicht mehr bereit sind, ein Land verteidigen zu wollen, das keine Demokratie mehr ist. Die Pläne dieses neuen Regimes sind daher auch für die existenzielle und wirtschaftliche Sicherheit Israels gefährlich.
Der amtierende Premierminister Netanjahu war über Jahrzehnte das Symbol des fragilen Staatsvertrags. Beliebt als Volkstribun von der einen Seite, wurde er gerade deshalb auch von der anderen Seite verachtet. Aber er konnte immer wieder die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler auf sich vereinen, auch weil er allen Seiten versprach, den Vertrag, dass man sowohl jüdisch als auch demokratisch sein kann, einzuhalten. Das war die Stärke Netanjahus, aber es war auch die ideelle und materielle Grundlage des Gesellschaftsvertrages zwischen den Menschen in Israel. Es war der Preis, den man als Jude für die Freiheit zu bezahlen bereit war. Und auch die nicht jüdische Bevölkerung konnte von diesem Gesellschaftsvertrag profitieren.
Nun scheint es so zu sein, dass Netanjahu die Kontrolle über die Aktionisten in seinem eigenen Lager verloren hat. Sogar der amerikanische Botschafter Israels riet ihm, die Bremse zu ziehen. Aber es scheint, dass er nicht mehr am Steuer sitzt, sich kaum noch in die Öffentlichkeit wagt. Das Image des alles kontrollierenden Staatsmannes geht ihm tagtäglich verloren. Ein Staatsbesuch in den USA ist im Moment nicht angesagt. Netanjahu traf am 15. März bei seinem kurzen Staatsbesuch in Berlin Olaf Scholz. Die deutsche Vergangenheit, die existenzielle Bedrohung Israels, all das schwebt immer über den Treffen von israelischen und deutschen Regierungschefs, die auch immer von den Millionen von deutschen Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden begleitet werden. Kein deutsch-israelisches Treffen ohne die Schatten der Vergangenheit und der gemeinsamen historischen Verstrickung. Es ging bei diesem Treffen aber nicht um die Themen Iran und Russland und die gegenseitige Vertrauensbasis der Sicherheit als Staatsräson. Es ging um die Zukunft der israelischen Demokratie. Netanjahu rechtfertigte sich vor Scholz und versuchte zu beruhigen: Die Justizreform verstärke die Demokratie, schaffe eigentlich mehr Demokratie für das Land, sei gut für uns und die Welt.
Alle in Israel, sowohl die Befürworter als auch die Gegner des Regimewechsels in Israel, wissen, dass das nicht wahr ist. Die sogenannte Reform soll eine Tyrannei der Mehrheit etablieren. Die Ironie der Geschichte ging wohl an keinem der Beteiligten spurlos vorüber. Ein deutscher Regierungschef ermahnt dem israelischen Premierminister, dass die Demokratie in seinem Land in Gefahr ist, während draußen vor dem Brandenburger Tor Israelis in Berlin sich mit den Demonstranten in Israel solidarisieren. Der Kampf um Israels Demokratie ist aber keine innenpolitische Angelegenheit Israels. Es ist ein globaler Kampf der liberalen Demokratien gegen die unterirdischen autokratischen Ströme, die die Demokratien selbst erzeugen. Noch ist die Hoffnung da, dass es dazu nicht zu spät ist. Bei Redaktionsschluss hat Netanjahu verkündet, dass die geplante »Reform« für einen Monat ausgesetzt wird, um mit der Opposition zu beraten. Was genau passieren wird, ist nicht abzusehen.