Mit der Anerkennung der 1223. Welterbestätte beendete das Welterbekomitee der UNESCO, das in der indischen Hauptstadt Delhi tagte, den öffentlichkeitswirksamsten Punkt seiner Tagungsordnung: Zu den 24 neuen und zwei erweiterten Welterbestätten gehören die Siedlung der Herrnhuter Brüdergemeine in Sachsen als Teil einer internationalen Welterbestätte und das Residenzensemble Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern.
Statt der vorgesehenen drei benötigte das Welterbekomitee in diesem Jahr nur zwei Tage für die Einschreibung. Das lag vor allem daran, dass der Vorsitzende über die uneingeschränkt empfohlenen Nominierungen direkt abstimmen ließ; das führte dazu, dass sich nur wenige der 21 Komiteemitglieder vor der Entscheidung zu Wort meldeten, um die weltweite Bedeutung der Stätten, das oft jahrzehntelange Engagement und vor allem den Denkmal- und Naturschutz als Voraussetzung für eine erfolgreiche Nominierung zu unterstreichen. Immerhin bescheinigten die Komiteemitglieder Belgien und Indien dem Residenzensemble Schwerin genau dies vor der Beschlussfassung.
Der deutsch-britisch-amerikanische Erweiterungsantrag zu der im Jahr 2015 eingeschriebenen Welterbestätte Moravian Settlement Christiansfeld in Dänemark um Herrnhut, Gracehill und Bethlehem aber wurde in Rekordzeit ohne Kommentar etwa eines afrikanischen Komiteemitglieds eingetragen; dort lebt heute aufgrund der Missionsarbeit die große Mehrheit der Mitglieder der Brüdergemeinen. Der italienischen Via Appia. Regina Viarum und einer Reihe neuer Welterbestätten insbesondere aus Europa, die klassische, vom westlichen Denkmalverständnis geprägte Kategorien vertreten, ging es genauso. Zudem war die nach jeder positiven Entscheidung übliche Gratulationscour aus dem Plenarsaal in den Vorraum verlegt worden und damit vom Bildschirm der live im Internet übertragenen Sitzung verbannt.
Ganz anders wurden die vier afrikanischen Nominierungen behandelt. Regelmäßig ergriffen die vier afrikanischen Komiteemitglieder Kenia, Ruanda, Sambia und Senegal strategisch abgestimmt das Wort und priesen die nominierten Stätten fachlich, politisch und auch emotional als Erbe Afrikas und der Welt. Gemeinsam mit Indien, das in diesem Jahr den Vorsitz innehatte, bestimmten sie so Themen und Richtung der Diskussionen. Damit befreiten sie alle afrikanischen Vertragsstaaten der Welterbekonvention endgültig aus der Rolle, einen unterprivilegierten Kontinent mit nur wenigen Welterbestätten zu vertreten. Ihre Beiträge verdeutlichten, dass die kontinuierliche Verständigung darüber, was den Wert des gemeinsamen Erbes der Welt ausmacht, eine der zentralen Aufgaben des Komitees gerade in Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit des Programms ist. Eine Aussprache im Plenum sollte deshalb zur Evaluierung eines jeden Nominierungsdossiers gehören.
Ein Lehrstück dafür war die Debatte um die Eintragung der südafrikanischen Dossiers »Menschenrechte, Befreiung und Versöhnung – Stätten des Vermächtnisses von Nelson Mandela«. Der Antrag lag dem Komitee bereits im Jahr 2022 zur Entscheidung vor, wurde aber zurückgestellt, weil das Ergebnis einer Studie zu »Erinnerungsstätten mit Bezug zu jüngsten Konflikten« abgewartet werden sollte. Die zunehmende Zahl sich abzeichnender Anträge aus diesem Bereich hatte Befürchtungen aufkommen lassen, dass Eintragungen von Erinnerungsstätten, die mit Ereignissen wie Krieg, Schlachten, Völkermord, Besatzung, Deportation, Apartheid und Menschenrechtsverletzungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts zusammenhängen, zu politischen Auseinandersetzungen und Vereinnahmungen führen könnten. Außerdem sah man den konzeptionellen Ansatz der Welterbeliste in Gefahr, der darauf basiert, dass sich immaterielle Werte an materiell außergewöhnlicher und weltweit bedeutender Substanz manifestieren sollten. Mit klaren Vorgaben für das Evaluierungsverfahren solcher Stätten und das Vorgehen in einem Streitfall konnten die Bedenken entkräftet werden.
Der von Südafrika eingebrachte Antrag »Menschenrechte, Befreiung und Versöhnung« besteht aus 14 Komponenten, die eng mit Leben und Wirken Nelson Mandelas und mit dem Kampf gegen das Apartheid-Regime verbunden sind. Dazu zählen unter anderem die Waaihoek Wesleyan Church in Bloemfontein, in der 1920 der Afrikanische Nationalkongresses ANC gegründet wurde, und der Constitution Hill, auf dem in unmittelbarer Nachbarschaft das 2004 gebaute Verfassungsgericht und das 1893 als Militärbasis errichtete Old Fort stehen, in dem während der Zeit der Apartheid viele politische Gefangene, darunter Nelson Mandela und Mahatma Gandhi, als Untersuchungshäftlinge inhaftiert waren.
ICOMOS, die Beratungsorganisation des Welterbeübereinkommens, hatte auf Wiedervorlage innerhalb von drei Jahren votiert, weil Überarbeitungs- und Ergänzungsbedarf unter anderem in Hinblick auf den rechtlichen Schutz einschließlich Pufferzonen, die Anzahl der Komponenten, den Nachweis von Integrität und Authentizität sowie den Titel des Antrags gesehen worden war. Die Komiteemitglieder wischten die Beanstandungen allesamt vom Tisch; insbesondere der Vorschlag, den Namen Nelson Mandelas aus dem Titel zu streichen, wurde mit Unverständnis quittiert. Auch mangelnde Authentizität und Integrität wurden nicht gesehen. Mit Verweis auf den World Heritage Convention Act, mit dem im Jahr 1999 das Welterbeübereinkommen in das südafrikanische Recht inkorporiert wurde, verbat man sich auch jegliche Kritik am Schutzstatus. Der belgische Delegierte forderte schließlich die umgehende Aufnahme in die Welterbeliste, weil diese Einschreibung auf der ersten Sitzung des Welterbekomitees in Indien große Symbolkraft habe; beide Staaten hätten über Jahrhunderte hinweg vielfältige Beziehungen, die auch in den Gemeinsamkeiten von Nelson Mandela und Mahatma Gandhi zum Ausdruck kämen; ihre Botschaften seien von universeller Bedeutung. Mit dieser Einschreibung wurden Maßstäbe für die noch junge Kategorie der Erinnerungsstätten mit Bezug zu jüngsten Konflikten gesetzt und eine Ikone mit einer universellen Botschaft in die Welterbeliste eingetragen.