Der Angriff der islamistischen Hamas am 7. Oktober 2023 auf die israelische Zivilbevölkerung und der darauffolgende Gaza-Krieg hatten weltweite Auswirkungen, die sich besonders stark im Internet zeigten. Beratungsstellen berichten von einer seit langem beispiellosen Welle antisemitischer Äußerungen im Netz. Zwar waren Desinformationskampagnen, Verschwörungstheorien, politische Radikalisierung und antisemitische Narrative seit jeher eng mit dem Nahostkonflikt verknüpft, doch seit dem 7. Oktober wurden sie zu Massenphänomenen. Viele Jüdinnen und Juden berichten, dass sie sich zunehmend unsicher fühlen – und sich von den großen Social-Media-Plattformen zurückziehen.
Die radikalisierende Wirkung sozialer Medien ist dabei maßgeblich. Soziale Medien transformieren globale Konflikte rasch in alltägliche Diskussionsthemen. Extremistische Gruppen nutzen sie, um ihre Inhalte zu verbreiten, oft ungefiltert und fernab jeglicher journalistischen Sorgfalt. Gewaltvideos und Falschinformationen werden schnell verbreitet, modifiziert und für politische Zwecke instrumentalisiert, auch wenn sie später als falsch entlarvt werden: Ihre emotionalisierende und agitatorische Wirkung haben sie dann schon entfaltet.
Besonders besorgniserregend ist, wie viele junge Menschen von diesen Narrativen erfasst werden. Die Kurzvideoplattform TikTok, als zentrales Medium der Generation unter 25 Jahren, spielt dabei eine Schlüsselrolle. Einem jungen Publikum dient sie als Nachrichtenmedium, Suchmaschine, Hausaufgabenhilfe und Freundinnennetzwerk in einem. Ein Großteil der Inhalte ist unterhaltsam bis lehrreich. Doch gerade politische Themen sind heiß umkämpft und werden allzu oft von Hetzern definiert, denen es nur um maximale Reichweite für ihre eigene Agenda geht. Eigentlich unpolitische Influencerinnen und Influencer, die beispielsweise Makeup oder Kochrezepte vorstellen, werden außerdem von ihren Followern zu simplistischen Positionierungen gedrängt: Schminkinfluencerinnen dozieren dann über geopolitische Konflikte. Der TikTok-Algorithmus begünstigt dabei in unseren Augen eine algorithmische Radikalisierung, die Nutzerinnen und Nutzer mit immer aufregenderen Inhalten aus den Themenbereichen versorgt, für die sie sich interessieren. Einmal in diesen Radikalisierungstunneln gefangen, finden Nutzer kaum mehr heraus und können schließlich in Extremfällen auch zur Gewalt übergehen. In unserem Report »Die TikTok-Intifada – Der 7. Oktober & die Folgen im Netz« zeigen wir darüber hinaus: TikTok hat ein Antisemitismus-Problem.
Laut eigenen Angaben entfernt TikTok jährlich etwa hundert Millionen Videos, die gegen die Community-Richtlinien verstoßen. Dennoch scheint der Zustrom an Hatespeech ungebrochen, trotz der strengen Selbstverpflichtungen der Plattform, die sich dem EU-Kodex gegen Hassrede angeschlossen hat. Neben allen bekannten Formen von Rassismus und Menschenfeindlichkeit berichten auch Jüdinnen und Juden von verletzenden Äußerungen, Gewaltandrohungen und Doxing (Sammeln von personenbezogenen Daten, die dann öffentlich gemacht werden). Zwar verfügt die Plattform auch über Melde- und Schutzmechanismen, doch deren Wirksamkeit halten wir für fraglich.
Antisemitische Narrative sind im Kampf um Aufmerksamkeit besonders erfolgreich, von Verschwörungstheorien über Holocaust-Leugnung bis hin zu israelbezogenem Antisemitismus. Eine Studie der Universität Haifa zeigt, dass Antisemitismus und Holocaust-Leugnung den Großteil extremistischer Postings überhaupt ausmachen. Aber auch die »Umweg-Kommunikation« über vermeintliche »Israelkritik« dient oft als Ventil für Antisemitismus. Diese Narrative bedienen sich tief verwurzelter antisemitischer Stereotype, die historisch über Jahrhunderte hinweg in Europa und darüber hinaus verbreitet wurden. Durch die Wiederholung und Variation dieser Ideologeme wird eine Kontinuität antisemitischen Denkens aufrechterhalten, die weit über eine auch emotionale Kritik an israelischen Regierungs- oder Kriegshandlungen hinausgeht und antisemitische Ressentiments in neuen, vermeintlich legitimen Kontexten verankert. Die Dämonisierung Israels als einzigartig böswilligem Staat dient dabei als Vehikel, um traditionelle antisemitische Vorurteile zu modernisieren und zu perpetuieren.
Typische problematische Narrative auf TikTok vergleichen Israel mit dem Südafrika der Apartheid und charakterisieren es als »weiße Siedlerkolonie«. Dabei wird die historische Verwurzelung von Jüdinnen und Juden in Israel ausgeblendet, ebenso wie die Shoa und Pogrome, die der Staatsgründung vorausgingen. Die Darstellungen der palästinensischen Seite vermischen regelmäßig Besatzungsalltag, strukturellen Rassismus in Kernisrael und das aktuelle Kriegsgeschehen, wobei Terrorismus zu oft als verständlich, gar als antirassistischer Widerstand dargestellt wird – bis hin zur Verteidigung oder gar einem Lob der Hamas. Ein prominentes Beispiel ist die libanesische Foodbloggerin Abir el Saghir, die ein Video veröffentlichte, in dem sie Süßigkeiten zur Feier des 7. Oktober an Passanten verteilte und dadurch massive Reichweite erzielte.
Aggressivere Videos nutzen Hashtags wie #FromTheRiverToTheSea und verbreiten Falschinformationen sowie kontextlose Gewaltszenen. Jüdische Accounts werden mit Kommentaren geflutet, die sie zur Stellungnahme zwingen oder antisemitisch beleidigen. Jüdinnen und Juden werden dabei zu Objekten politischer Projektion und binär in »besatzungskritisch« und »zionistisch« sortiert, wobei letztere nahezu beliebig attackiert werden dürfen.
In diesem Kontext wird deutlich, wie sehr der moderne Antisemitismus auf eine instrumentalisierte »Israelkritik« zurückgreift, um historische Feindbilder in die Gegenwart zu transportieren und zu verstärken. Diese Form der Rhetorik verschleiert den eigentlichen Antisemitismus, indem sie sich als politische Kritik tarnt, während sie in Wirklichkeit auf die Zerstörung der Legitimität des jüdischen Staates und die Diffamierung von Jüdinnen und Juden weltweit abzielt.
Der Nahostkonflikt dient auch als Vehikel für Desinformation und Verschwörungsideologie. In Deutschland haben Influencer wie Barello und Yasser Abou-Chaker falsche Behauptungen über die israelische Besatzung und den Nahostkonflikt verbreitet, obwohl sie zuvor keine relevanten politischen Inhalte geteilt hatten. Oft beobachten wir auch Verschwörungstheorien, die die deutschen Medien als von Israel gelenkt darstellen. Zu den weit verbreiteten Erzählungen gehört auch die Behauptung, dass Israel gezielt palästinensische Zivilisten ermorden lässt, etwa um ihnen die Organe zu rauben. Solche falschen Darstellungen und die Überzeichnung von Israels Handlungen durch die Darstellung als »das absolute Böse« dienen dazu, ein Gemeinschaftsgefühl unter den vermeintlich »Guten« herzustellen.
Neben individuellen Influencerinnen und Influencern haben auch politische Bewegungen wie die Querdenker-Szene in Deutschland den Nahostkonflikt für ihre eigenen Zwecke vereinnahmt. Sie nutzen antisemitische Narrative, um ihre Agenda zu fördern, indem sie Israel das Existenzrecht absprechen und den Terrorismus der Hamas als gerechtfertigte Selbstverteidigung darstellen. Auf Demonstrationen behaupteten sie, dass die Palästinenser ebenso wie die Deutschen von einer kleinen Elite beherrscht würden, was ein klassisches antisemitisches Stereotyp von der Kontrolle durch wenige Mächtige darstellt.
All diese Narrative waren schon zuvor verbreitet – durch den Gaza-Krieg haben sie aber einen neuen Aufschwung erhalten. Die Tatsache, dass junge Menschen über ihre digitalen rolemodels – Gaming-, Food- oder Makeup-Influencer – mit extrem verkürzten, unreflektierten oder antisemitischen Positionen über das Judentum, Israel oder Zionismus konfrontiert werden, muss beunruhigen. Diese rolemodels genießen ein höheres Vertrauen als Lehrer oder Eltern; sie setzen den emotionalen Hintergrund, auf dem diese Themen in der weiteren Bildungsbiografie bearbeitet werden. Die latente Bedrohung, die für Jüdinnen und Juden davon ausgeht, darf nicht kleingeredet werden.
Angesichts der Herausforderungen durch soziale Medien und digitale Plattformen wie TikTok argumentieren wir in unserem Report für eine radikale Transformation politischer Bildung. Nötig wird ein neues Bildungsparadigma, das Medienkompetenz und politische Bildung integriert und kontinuierlich aktualisiert – neben gezielten Aufklärungskampagnen und Schulungen für Jugendliche und Influencer. Jugendliche müssen in die Lage versetzt werden, mündig und reflektiert mit dem Medium umzugehen, Manipulationstechniken ebenso wie algorithmische Tunnelung zu erkennen – und auch für chiffrierte Formen von Antisemitismus sensibel zu werden.
Gleichzeitig müssen Tech-Konzerne wie TikTok stärker in die Verantwortung genommen werden, indem sie verpflichtet werden, gegen Hassrede und Desinformation stärker als bisher vorzugehen. Dazu gehören auch rechtliche Konsequenzen für Plattformen, die diese Pflichten vernachlässigen.
TikTok-Report zum Nahostkonflikt
Der Report »Die TikTok-Intifada – Der 7. Oktober & die Folgen im Netz. Analyse & Empfehlungen der Bildungsstätte Anne Frank« kann hier kostenlos heruntergeladen werden.