Sommer, Sonne, strahlend blauer Himmel – und vielleicht auch Erleuchtung? Pilgerreisen sind heutzutage nicht mehr ausschließlich streng gläubigen Menschen vorbehalten. Im Gegenteil, der Pilgertourismus erlebt einen regelrechten Aufschwung. Auch nach dem pandemiebedingten Einbruch der Besucherinnen und Besucher des Pilgerbüros von Santiago de Compostela steigt die Zahl sehr schnell wieder an, ganz anders als die Zahl der Kirchenmitgliedschaften in Deutschland. Besonders während der Sommermonate und damit in der Urlaubszeit wird der berühmte europäische Pilgerweg stark frequentiert. Doch stellt sich die Frage, ob die spirituelle Selbstfindung zu einem kommerziellen Freizeitvergnügen geworden ist. Warum pilgern überhaupt Menschen, die nicht bewusst auf der Suche nach Gott sind?

Religiös geprägte Reisen wie Wallfahrten oder Pilgerrouten sind seit Langem etablierte Formen des Reisens. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich jedoch der spirituelle Tourismus deutlich weiterentwickelt und geht über die bisher vorrangig gläubigen Pilger hinaus. Diese Art des Reisens findet heute an vielfältigen Orten mit religiösem Bezug oder historischen Verbindungen sowie entlang entsprechender Reiserouten in verschiedensten Formen statt und spielt auch wirtschaftlich eine bedeutende Rolle.

Das Pilgern war schon im Mittelalter eine vielschichtige Angelegenheit, und es ist schwierig, die unterschiedlichen Motivationen einzelner Pilgerinnen und Pilger in einer einzigen Erklärung zusammenzufassen. Neben dem Wunsch nach Vergebung für begangene Sünden und der Verstärkung von Bitten gab es auch Freude an der Entdeckung unbekannter Länder und die pure Abenteuerlust, besonders bei Pilgerfahrten ins Heilige Land. Wirtschaftliche Überlegungen spielten ebenfalls eine Rolle, da viele Dienstleister den reibungslosen Ablauf der Pilgerreisen garantierten. Das Pilgern sorgte so für eine starke Mobilität in Europa, etablierte Handels- und Geschäftsbeziehungen zwischen Nordeuropa und dem Mittelmeerraum und schuf eine Art frühen »Prototourismus« für diejenigen, die es sich leisten konnten.

Heutzutage verbinden sich oft verschiedene Motive für eine Pilgerreise, und nicht selten entwickeln sie sich erst während der Reise. Reisende besuchen religiös bedeutsame Stätten wie Kirchen, Klöster, Moscheen, Synagogen und Tempel, um dort Kraft zu schöpfen und gleichzeitig Wissen über unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen zu erlangen. Diese Erkenntnisse können durch die Architektur und Ausstattung solcher Orte erfahren werden, wenn sie im Rahmen eines Besuchs zugänglich sind. Solche Orte sind beispielsweise im christlichen Kontext vielfältig und auf unterschiedliche Weise erschlossen, von aktiven Klöstern bis hin zu von der öffentlichen Hand genutzten Museen oder kulturell bedeutsamen Orten, die das religiöse Erbe bewahren.

Forschungen legen nahe, dass persönliche Erfahrungen von Krisen oder Verlusten auf der Reise verarbeitet werden, allein oder in Gesellschaft anderer Menschen. Oft wird dieser Prozess als Impuls für die persönliche Entwicklung wahrgenommen. Die tiefen Erfahrungen beim Pilgern, wie das Kennenlernen der eigenen physischen und psychischen Grenzen, das Überwinden von Hindernissen und das bewusste Vermeiden von Bequemlichkeiten, schaffen die Möglichkeit, sich selbst neu zu erfinden und den Alltag zeitweise hinter sich zu lassen.

Diese Unterbrechung des Alltags während des Pilgerns begleitet oft den Übergang von einer Lebensphase zur nächsten, beispielsweise zwischen Studium und Berufsleben oder vor einer persönlichen Neuorientierung. Indem sich die Pilger aus praktischen Gründen auf ein Minimum an Ausstattung beschränken, werden soziale Unterschiede wie Alter, Klassen- und Religionszugehörigkeit aufgehoben, und es können Vertrauensbeziehungen in einer geschützten Atmosphäre entstehen, die im normalen Alltag nicht möglich wären. Unterwegs teilt man bereitwillig Essen und Kleidung, und menschliche Schwächen werden nicht versteckt, sondern toleriert.

Pilgerinnen und Pilger berichten oft von der befreienden und transformierenden Wirkung ihrer Reisen. Tiefe Gespräche mit bisher unbekannten Menschen tragen zu einer heilsamen Erfahrung bei. Die großen Fragen des Lebens stellen sich meist auch während der Reise selbst und nicht nur zu Beginn oder am eigentlichen Ziel der Pilgerreise.

Es ist schwierig zu bestimmen, ob das moderne Pilgern hauptsächlich der Suche nach Gott geschuldet ist oder vielmehr einer persönlichen Selbstfindung dient. Pilgern nur als eine besondere Form der Tourismus zu begreifen greift jedenfalls zu kurz. Die Praxis des Pilgerns eröffnet neue Möglichkeiten eines spirituellen Lebens jenseits der Disziplin und Autorität der Konfessionen. Wohin sich diese neuen religiösen Suchen entwickeln und die Richtungen, die zukünftige Pilger einschlagen werden, bleibt abzuwarten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.