Hebräisch? Jiddisch? Gar Arabisch und vielleicht Russisch? Es mag zunächst merkwürdig anmuten, doch die Bezeichnung »Israelische Literatur« umfasst Prosawerke, Gedichte und Bühnenstücke in diesen und weiteren Sprachen. Nicht minder faszinierend ist das Spektrum der Autoren mit ihrem höchst unterschiedlichen biografischen Hintergrund: Einige sind vor der Staatsgründung geboren, wie Yoram Kaniuk, Amos Oz und Abraham B. Jehoschua; andere im souveränen Israel wie David Grossman und Zeruya Shalev; einige stammen aus den GUS-Staaten, schreiben jedoch ihre Werke auf Hebräisch z. B. Alona Kimchi oder Alex Epstein; andere wiederum halten erfolgreich an ihrer russischen Muttersprache fest – so Dina Rubina. Neben diesen Schriftstellern jüdischer Herkunft gibt es israelische Araber – manche definieren sich ausdrücklich als Palästinenser –, die ihre Werke auf Arabisch wie Uda Basharat oder auf Hebräisch wie Sayed Kashua und Ayman Sikseck verfassen.
Die moderne hebräische Literatur ist eng mit der gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden nationalen Renaissance und der zionistischen Bewegung verbunden. Die hebräische Sprache, die jahrhundertelang als »Sefat kodesch«, hebräisch für heilige Sprache, hauptsächlich im religiösen Ritus gebraucht wurde, ist in Israel zu einer lebendigen Sprache, zu einem Kommunikationsmittel im Alltag wie auch zu einer den Zeitgeist widerspiegelnden Sprache der Literatur geworden. Aus der frühen Literatur, die in der Diaspora entstand, so z. B. im Spanien des Mittelalters von Ibn Gabirol und Yehuda Halevi oder in Italien (das erste hebräische Bühnenstück von Leone deʼ Sommi im 16. Jahrhundert) wurde die Literatur einer Nation – eine Literatur, welche die Wiedergeburt des jüdischen Volkes in der alt-neuen Heimat begleitete, gewiss teilweise auch überhöhte, sich aber auch mutig und oft voraussehend mit den Problemen des Landes auseinandersetzte.
Die ersten Autoren, Verleger und Leser der neueren hebräischen Literatur lebten in Ost- und Mitteleuropa, überquerten allmählich – einige zuversichtlich, andere zaudernd – das Mittelmeer und ließen sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Erez Israel nieder. Unter ihnen war der früh von den Zionisten zum Nationaldichter gekürte Dichter Chaim Nachman Bialik sowie der Prosaautor Shmuel Yosef Agnon, bis heute der einzige hebräische Autor, der 1966 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde.
Im Zeichen des Kampfs um Unabhängigkeit und Souveränität sowie eines Neuanfangs standen Prosa und Gedichte der »Generation 1948« z. B. S. Yizhar, Moshe Shamir und Aharon Megged. Das Ideal des »Neuen Juden«, der für seine Heimat kämpft und aus der Heimaterde Brot gewinnt, der Taten über Worte stellt, sollte eine Antwort auf das stereotype Bild sein, das man sich gemeinhin vom Diaspora-Juden machte. Entsprechend stand die frühe Literatur im Zeichen des zionistischen Narrativs und prägte es gleichzeitig.
Eine (selbst-)kritischere Haltung, Ernüchterung und Zweifel kennzeichnen die Werke der folgenden Generation. Die Kriege von 1948 und 1956 hatte man zwar gewonnen, den Konflikt mit den Arabern und den Palästinensern aber nicht gelöst. Das moralische Dilemma, das bereits 1949 in den Kurzgeschichten von S. Yizhar Ausdruck gefunden hatte, wurde zu einem der Kernthemen in der Literatur der »Generation des Staates«, zu der unter anderem Amos Oz, Abraham B. Jehoschua und Jehuda Amichai zählen. Oft zeigt sich der »Neue Jude« als Anti-Held, das idealisierte Kibbuz-Modell entpuppt sich als verzerrtes Bild einer Kollektivsiedlung, die erhoffte Geborgenheit erweist sich als Selbsttäuschung. Zur gleichen Zeit erschienen die ersten Prosawerke von Holocaust-Überlebenden wie Aharon Appelfeld, aber auch von Eingewanderten aus arabischen Ländern (Shimon Ballas, Sami Michael und Eli Amir), die trotz einem hoffnungsvollen Neuanfang marginalisiert blieben und mehrere Jahre eines harten Alltags in Barackenlagern erleben mussten.
Als Folge des Jom-Kippur-Kriegs (1973), des Libanon-Kriegs (1982) und der Intifada hinterfragten einige Autoren Grundkonzepte der zionistischen Ideologie sowie den politischen und militärischen Kurs. Die Kluft zwischen dem »rechten« Lager, den Befürwortern der Siedlungspolitik und denjenigen, die für eine Lösung des Konflikts plädierten, spiegelt sich im öffentlichen Diskurs wie auch in der Literatur wider. Werke kriegs- und kampferfahrener Autoren – z. B. Yoram Kaniuks autobiografischer Roman »1948« (2010), Ron Leshems »Wenn es ein Paradies gibt« (2005) – reflektieren Leid, Schuld und Sinnlosigkeit von politischen Handlungen und Militäraktionen. Zu nennen wäre hier außerdem David Grossmans Meisterwerk »Eine Frau flieht vor einer Nachricht« (2008).
Diversität, stupender Pluralismus sowie Freude am Experimentieren markieren die zeitgenössische hebräische Literatur. Spielerisch, im Geist der Postmoderne, gehen manche Autoren mit der hebräischen Erzählsprache um. Humorvoll, gespickt mit Ausdrücken und Klischees der Sub- oder Popkultur präsentieren sich die minimalistischen Texte von Etgar Keret. Bewusst entschied sich Orly Castel-Bloom (z. B. »Dolly City«, 1992) für einen schlampigen Stil, verschmilzt blumige Sprachbilder, abgedroschene Redewendungen und Floskeln – ein Spiegel surrealer Existenz. Kaum zu übersehen ist die ansteigende Zahl von Romanen aus der Feder israelischer Schriftstellerinnen wie Zeruya Shalev, Judith Katzir, Hila Blum und Ayelet Gundar-Goshen. Oft richtet sich ihr Blick auf Leid und Leidenschaft der Frau als autonomes Subjekt, und dabei auch auf die Angst und Sorge israelischer Mütter. Diese Thematik sowie die zunehmende Prominenz hebräischer Autorinnen stellt eine späte Antwort auf die lange Zeit vorherrschende Ausgrenzung der Frau im männlich dominierten nationalen Diskurs und in der Belletristik dar.
Neben Werken der sogenannten »Zweiten Generation«, die das Schweigen der Eltern über den Holocaust zu durchbrechen und sich literarisch dem Unbeschreiblichen zu nähern versuchen, z. B. Nava Semel, Savyon Liebrecht, Lizzie Doron, gewann seit Anfang des Millenniums das Deutschland-Motiv an Bedeutung. Neben Kaniuks »Der letzte Berliner« erschienen Romane, die Erinnerungen an eine untergegangene Welt beschwören, dabei aber gleichzeitig auch das heutige Deutschland, insbesondere Berlin, erkunden – zu nennen sind dabei: Haim Beer, Shifra Horn, Ron Segal.
Bemerkenswert sind ebenfalls Romane, oft von gläubigen Autorinnen und Autoren verfasst, die das orthodoxe Milieu samt den strengen Verhaltensregeln und Sitten beleuchten – wie Mira Magén, Jochi Brandes und Emuna Elon. Immer stärker rücken auch die unterschiedlichen ethnischen Gruppen der Gesellschaft in den Mittelpunkt literarischer Werke. Getragen vom Wunsch nach kultureller Erinnerung unternehmen die Kinder und Enkelkinder der Einwanderer, insbesondere diejenigen misrachischer, also orientalischer, Herkunft, den Versuch, die Geschichte ihrer Familie und das Leben der Vorfahren in den Herkunftsländern aufzuarbeiten, nachdem dieses Erbe in Israel lange Zeit unter dem Druck eines monolithischen, eurozentrisch orientierten Identitätsmodells verschwiegen wurde – z. B. Ronit Matalon, Dorit Rabinyan, Almog Behar, Sami Berdugo. Ein faszinierendes Porträt einer sephardisch-jüdisch-israelischen Familie über fast 200 Jahre liefert Abraham B. Jehoschua in dem Roman »Die Manis«. Ehemalige Kibbuz-Mitglieder gehen auf eine literarische Erinnerungsreise und erzählen vom fundamentalen Wandel jener kollektiven landwirtschaftlichen Siedlung, die im zionistischen Narrativ als Inbegriff einer neuen Lebensform galt – siehe: Yael Neeman, Assaf Inbari, Saleit Shahaf-Poleg.
In Zeiten von Corona verstärkt sich eine Tendenz, die sich bereits davor abzeichnete: das zunehmende Interesse am Privaten, an der Familie z. B. bei Eshkol Nevo und Nir Baram, an Freundschaft und Zweisamkeit – auch homosexuelle –, ja sogar am scheinbar banalen Alltag. Bereits vor der Pandemie, die von Einschränkungen, Kurzarbeit oder Homeoffice gekennzeichnet ist, setzten sich hebräische Autoren mit der Arbeitswelt, der Entfremdung und der Anonymität der Angestellten auseinander, wie Tehila Hakimi.
Der Stellenwert der Literatur in Israel lässt sich nicht allein an der jährlichen Zahl neuer Bücher – und dazu einem starken Anstieg an digitalen Veröffentlichungen – ermessen. Hebräische Erzählungen und Gedichte aus Vergangenheit und Gegenwart sind weiterhin ein unverzichtbarer Bestandteil des Schulunterrichts in Grund- und weiterführenden Schulen, und zwar auch, wenn das bestimmte Werk zu Kontroversen geführt hat. Zu erwähnen ist das Engagement israelischer Autoren in Politik und Gesellschaft. So diente S. Yizhar seit der Staatsgründung fast zwei Jahrzehnte als Knesset-Abgeordneter. Sein Zeitgenosse Moshe Shamir, ursprünglich engagiertes Mitglied der linksgerichteten Bewegung Hashomer ha-Zair, wechselte nach dem Sechs-Tage-Krieg die Seiten, war Mitbegründer der Bewegung für ein Großisrael. Amos Oz plädierte für eine Zwei-Staaten-Lösung und war Mitbegründer der Bewegung Shalom Achshaw, hebräisch für: Frieden jetzt. Als unermüdlicher Friedensaktivist ist ebenfalls David Grossman bekannt, der mit »Der gelbe Wind« (1987) den Blick auf die »israelisch-palästinensische Tragödie« richtete.
Fast alle hier erwähnten hebräischen Autoren kann man auf Deutsch lesen. Zumeist liegt mindestens ein Werk in Übersetzung vor, aber es gibt auch Autoren wie Amos Oz, David Grossman, Zeruya Shalev und Eshkol Nevo, deren sämtliche Bücher hierzulande erschienen sind. Zugegeben, die Zahl der Übersetzungen aus der vorstaatlichen hebräischen Literatur ist nach wie vor äußerst gering, so auch die Werke aus den ersten Staatsjahren. Mit einer Ausnahme: Ephraim Kishon.
In der Gesamtliste der Übersetzungen steht der ursprünglich aus Ungarn stammende, Hebräisch schreibende Satiriker einsam an der Spitze, und zwar mit über 80 Titeln. Ab den späten 1970er Jahren wurden dann immer mehr Romane, Erzählungen, Gedichte und Bühnenstücke israelischer Autoren dem deutschen Leser zugänglich. Das stets aktualisierte Kindlers Literatur Lexikon enthält mittlerweile fast 80 Artikel zu Werken der modernen israelischen Literatur, die allesamt zum belletristischen Kanon des Staates zählen.