Vor Kurzem begleitete ich Besucher zum Schrein des Buches im Israel Museum in Jerusalem, um dort die Schriftrollen vom Toten Meer zu betrachten. Was meine Gäste besonders beeindruckte, waren nicht etwa die eigentlichen Schriftrollen, sondern der Anblick einer Gruppe israelischer Viertklässler, die mit gegen die Ausstellungsvitrine gedrückten Nasen laut Passagen aus den zweitausend Jahre alten Schriften ablasen.

Um die zeitgenössische israelische Kultur verstehen zu können, muss man sich genauer mit der Geschichte der hebräischen Sprache sowie mit ihrem Niedergang und Wiederaufstieg in zwei Jahrtausenden beschäftigen; und man muss Hebräisch als die Grammatik eines dynamischen Dialogs zwischen den Anforderungen der in ständigem Wandel begriffenen Gegenwart und den Zwängen der Vergangenheit sehen, in welchem jedes Wort eine ganze Assoziationskette nach sich zieht.

Die Geschichte beginnt mit dem klassischen Hebräisch der biblischen Schriften. Das erhabene Idiom der Bibel zeichnet sich durch eine stilistische Geschmeidigkeit und Bandbreite aus, die Erzählungen, Prophezeiungen, Gesetze, Sprichwörter, Philosophie, Klagelieder, romantische Geschichten und vieles mehr umfassen kann. Trotz seines Status als Sprache ohne Staat sollte sich das Hebräische zum schriftlichen Medium kultureller Identität entwickeln.

Obwohl sich beispielsweise im islamischen Spanien das Hebräische mit dem Arabischen vermischte, bewahrte es sich dennoch auf dem Gebiet der Juristerei und Liturgie einen ganz eigenen Bestand bestimmter Ausdrucksweisen. Während der Blütezeit der hebräischen Literatur etwa zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert verwendeten andalusische Dichter wie Jehuda ha-Levi und Solomon ibn Gabirol ein Hebräisch, das sich durch überraschende Andeutungen und Dichtigkeit auszeichnete, um die Grenzen zwischen Sakralem und Sinnlichem zu verwischen.

Im 18. Jahrhundert wollten die Wegbereiter der jüdischen Aufklärung Juden mithilfe des Hebräischen von ihren kulturellen Zwängen befreien: Indem sie das Hebräische mit einer Ästhetik versahen, die den europäischen Sprachen glich, hofften sie, das Tor zur Moderne aufzustoßen. Obwohl sie ihr Ziel nicht ganz erreichen konnten, ebneten ihre Bemühungen dennoch den Weg für eine kleine Gruppe säkulärer europäischer Schriftsteller im darauffolgenden Jahrhundert und sorgten dafür, dass das Hebräische aus dem Schatten treten und seine versteckte Vitalität wiederlangen konnte. Diese Kultur-Zionisten verhalfen der hebräischen Sprache zur Wiedergeburt und vollbrachten damit eine in der Sprachgeschichte einmalige Leistung.

Ganz zu Anfang schien diese Wiedergeburt wenig erfolgversprechend. Für fromme Juden glich die Verwendung der heiligen Sprache für profane alltägliche Zwecke einer Entweihung. Pragmatikern wiederum erschien die Vorstellung, einer Gelehrtensprache, der Wörter für Tomate, Theater, Mikroskop oder Spaß fehlten, neues Leben einzuhauchen, vollkommen lächerlich oder undenkbar. Selbst Theodor Herzl, dem Vater des politischen Zionismus, schwebte ein jüdischer Staat mit Deutsch sprechenden Einwohnern vor.

Und doch kehrte die geschichtsträchtige Sprache letztendlich an ihren Geburtsort zurück, was der Hartnäckigkeit von Pionieren wie Eliezer Ben-Jehuda zu verdanken ist, die nicht nur felsenfest von der Idee der Wiederbelebung der jüdischen Sprache überzeugt waren, sondern auch davon, dass dies mit der Wiederbesiedlung der jüdischen Heimat Hand in Hand gehen müsse. Und so kam es, dass das Hebräische nach den Worten des israelischen Poeten Jehuda Amichai »aus seinem biblischen Schlaf erweckt« wurde. Hebräisch, verjüngt und verweltlicht, ist zur Sprache geworden, die in Universitäten und Laboren, von Armee und Marine, von Bankiers und Diplomaten, und von allen israelischen Bevölkerungsgruppen  – Juden, Christen und Arabern – verwendet wird.

Die Aufgabe moderner israelischer Schriftsteller bestand darin, die Traditionssprache zu strecken und so anzupassen, dass sie für die Beschreibung einer Welt, welche die Tradition längst hinter sich gelassen hatte, geschmeidig genug wurde. Aufgrund ihres starken und idealistischen Einsatzes für das Hebräische als Mittel der nationalen Erneuerung gelang es ihnen, diese alte Sprache zu einem Vehikel zu machen, die der jüdischen Vergangenheit den Weg zur Gegenwart ebnete. Schriftsteller wie Amos Oz, Abraham  B. Jehoshua und David Grossman vervollständigten das Zauberkunststück und verwandelten die schwülstig anmutende Sprache der Pioniere in ein natürlich klingendes Alltags-Idiom.

Israelische Schriftsteller schufen keine Literatur ex nihilo. Dafür war die Sprache zu assoziationsbeladen und zu reich an Anspielungen. Bis zum heutigen Tag werden sie nicht müde, den immensen Reichtum an Sprachschätzen des Hebräischen zu schürfen. Wenngleich eine Wiederauferstehung niemals aus dem Nichts heraus erfolgt, so ist sie aber dennoch ein fast genauso großes Wunder.

Aus dem Englischen übersetzt von Renate Lagler-Thompson.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.