35Jahre ist es schon her, dass die Mauer »gefallen« ist, wie man gedankenlos sagt. 35 Jahre ist es erst her, dass die Teilung Deutschlands zu Ende war und eine Grenze getilgt, der Eiserne Vorgang zerrissen wurde, der ganz Europa in West und Ost getrennt hatte. Für viele Menschen ist die Erinnerung an dieses bittere Faktum unserer Geschichte verblasst und entschwunden, die Kenntnisse davon sind gering bei den jüngeren Generationen. Ist das zu beklagen? Und kann ein Naturprojekt notwendige oder wünschenswerte Erinnerungen festhalten?
Wo heute ein grünes Band durch Deutschland verläuft, war fast 40 Jahre eine brutale Grenze, gerichtet gegen die eigene Bevölkerung, immer perfekter ausgestattet gegen deren Fluchtversuche – mit Stacheldraht und Signalzäumen, mit Selbstschuss- und Hundelauf-Anlagen, mit Wachtürmen und Minenfeldern. Bewacht von 30.000 Grenzsoldaten, 1.400 km lang, von der Lübecker Bucht an der Ostsee bis zum Dreiländereck Bayern-Sachsen-Tschechien. Zu dieser Grenze gehörte eine fünf Kilometer breite Sperrzone, ein 500 Meter breiter Schutzstreifen und ein 10 Meter breiter gepflügter Kontrollstreifen, der »Todesstreifen«. Für dieses »Raumprogramm« waren ganze Dörfer geschleift, viele Tausende Bewohner enteignet und zwangsumgesiedelt worden, in der »Aktion Ungeziefer« im Jahr 1952. Ich habe persönliche Erinnerungen daran, wie Nachbarn entfernt wurden, denn ich bin in einer kleinen Stadt in Südthüringen, an der Grenze zu Bayern, aufgewachsen, die Teil der Sperrzone geworden war. Später dann in den 1960er Jahren wurde ich einmal verhaftet, weil ich wegen einer Erkrankung meiner Mutter dringend nach Hause musste, ohne rechtzeitig den notwendigen Passierschein dafür beantragt zu haben. So idyllisch war die DDR!
An dieser Grenze galt lange ein Schießbefehl – zur Verhinderung von »Republikflucht«, denn das eigene Land verlassen zu wollen, das war eine Straftat. Wie oft hat mein Vater, der Rechtsanwalt war, Menschen zu helfen versucht, die wegen versuchter Republikflucht angeklagt und verurteilt wurden. Das Grenzregime des SED-Staates forderte ca. 1.000 Tote. Eine blutige Bilanz!
Und jetzt, 35 Jahre nach friedlicher Revolution und Wiedervereinigung, denen wir die Schleifung der Grenze verdanken: Ist Gras über die traurig-böse Vergangenheit gewachsen? Erleben wir einen Sieg der schönen Natur über die grausige Geschichte? In den vergangenen drei Jahrzehnten ist jedenfalls aus der Todeszone ein wirklich grünes Band geworden und der ehemalige Grenzstreifen zu einem Rückzugsgebiet für vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Ein Naturschutzprojekt, begründet auf Initiative des BUND Bayern schon im Dezember 1989, das tatsächlich 1.400 km lang und zwischen 50 und 200 m breit ist und 177 Quadratkilometer umfasst. In diesem größten Biotop-Verbund Deutschlands ist gemeinsam mit über 150 Naturschutzgebieten ein zusammenhängender Naturraum entstanden, in dem sich eine besonders große Vielfalt der Fauna und Flora entwickelt. Das ist wahrlich ein nationales Naturmonument, und es ist zugleich eine kulturelle Leistung, weil es Geschichte bewahrt, indem es die ehemalige Grenze sichtbar und in Erinnerung hält. Und zum Zielort eines sanften Tourismus macht.
Zu den frühen Initiatoren gehörten nicht zufällig auch Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, deren Erbe das Grüne Band damit auch ist. Ihr Ziel war – und das sollte ein Ziel bleiben –, die Erinnerung daran wachzuhalten, dass an der früheren Grenze Menschen getötet, Familien getrennt, Anwohner bespitzelt und vertrieben wurden. Deswegen gehören zum Grünen Band notwendigerweise Gedenkstätten, Mahnmale und Grenzmuseen – um der bleibenden Erinnerung an Unfreiheit und vielfaches Unrecht willen, erfahren und erlitten in einem politischen System, das wir im »Jahr der Wunder« 1989/1990 überwunden haben, durch einen die deutsche und europäische Geschichte wendenden Aufbruch in die Demokratie.
Wer auf der falschen Seite der Grenze eine Diktatur erlebt hat – und deren glückliche Überwindung – der weiß, wie kostbar Demokratie ist, wie gefährdet und wie wenig selbstverständlich sie ist. Genau das symbolisiert das Grüne Band: Wo früher schmerzliche Trennung war, eine Todeszone, da blüht heute das Grün der Hoffnung, da verbindet Natur, da heilt sie alte Wunden. Es geht beim Projekt »Natur- und Kulturraum Grünes Band« eben um beides: um den Schutz und die Pflege der Natur und um eine lebendige Erinnerungskultur!