Am 30. April 1825 kamen in Leipzig Buchhändler und Verleger aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zusammen. Sie handelten in unterschiedlichen Währungen, ohne verbindliche Regeln und mit großen Reibungsverlusten. Sie kamen, um Ordnung in ihre Abrechnungssysteme zu bringen – sie kamen aber auch, weil ihnen das freie Publizieren und der freie Verkehr von Büchern und Gedanken am Herzen lag. Bei der Gründung des Börsenvereins stand schon damals neben der wirtschaftlichen auch eine politische Idee: Der Zensur sollte Einhalt geboten und das Urheberrecht gestärkt werden. Feste Ladenpreise für Bücher sollten das Kulturgut Buch schützen. Es ging um mehr als Handel – es ging um Haltung! Daraus wurde schnell eine Vertretung der Interessen des gesamten Berufsstands.
Zwei Jahrhunderte später sind die Themen erstaunlich aktuell: Die Buchpreisbindung ist auch heute ein Instrument, das kulturelle Vielfalt sichert. Das Urheberrecht ist ein Schutzwall gegen die unkontrollierte Nutzung kreativer Inhalte – damals bedroht durch Nachdruck und staatliche Eingriffe, heute durch KI und unzureichende Gesetzgebung, was die Honorierung menschlicher Kreativität betrifft.
Damals wie heute ist klar: Wer Bücher schützt, schützt das freie Wort. Und wer das freie Wort schützt, stärkt die Demokratie.
Der Börsenverein feiert in diesem Jahr sein 200-jähriges Bestehen. Damit ist er der älteste Wirtschaftsverband Deutschlands. Er vertritt die Interessen von rund 4.000 Mitgliedsunternehmen aus drei Stufen der Wertschöpfungskette – Buchhandel, Verlage und Zwischenbuchhändler – gegenüber Politik und Gesellschaft. Er setzt sich für wirtschaftlich und politisch sinnvolle Rahmenbedingungen für die Branche ein. Und er ist ein Verband, der für das Kulturgut Buch, die Freiheit des Wortes und für kulturelle Vielfalt steht.
Ein dunkles Kapitel
Zur Geschichte des Börsenvereins gehört auch ein Kapitel, das nicht verschwiegen werden darf: In der Zeit des Nationalsozialismus passte sich der Börsenverein dem Regime an. Er beteiligte sich an der Organisation der Bücherverbrennungen, schlug sogar selbst Werke zur Vernichtung vor. Diese opportunistische Anpassung steht im völligen Widerspruch zu dem, wofür der Börsenverein und die Branche heute stehen: für Vielfalt und Diversität, für die Freiheit des Publizierens und gegen jede Art der Zensur. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in den USA – dem systematischen Entfernen von Büchern aus öffentlichen Bibliotheken und den staatlichen Eingriffen in die Freiheit der Forschung und Kulturvermittlung – zeigt sich, wie gefährlich Schweigen ist.
Die Antwort auf das Agieren des Vereins in der NS-Zeit war eine klare Haltung: 1950 wurde der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ins Leben gerufen. Er wird jährlich in der Frankfurter Paulskirche verliehen – einem der symbolträchtigsten Orte deutscher Demokratiegeschichte. Ausgezeichnet werden Persönlichkeiten, die sich literarisch, wissenschaftlich oder publizistisch für Frieden, Verständigung und die Freiheit des Wortes einsetzen. Die Verleihung stößt weltweit Debatten an – über die Verantwortung des Einzelnen, über Menschenrechte, über die Kraft des Wortes. Der Friedenspreis erinnert die Branche an ihre Verantwortung in Politik und Gesellschaft.
Das Jubiläum nimmt der Börsenverein vor allem zum Anlass, nach vorne zu blicken: Wir schlagen in diesem Jahr ganz bewusst »Neue Kapitel« auf und widmen uns insbesondere vier Themenbereichen, die die Branche nicht nur heute, sondern auch in Zukunft beschäftigen werden:
Neue Positionen
In einer Welt, in der die Zahl der Autokratien wächst und Demokratien sich hybriden Angriffen ausgesetzt sehen, kommt der Meinungs- und Publikationsfreiheit eine elementare Bedeutung zu. Denn ohne freies Publizieren ist Meinungsbildung schwer möglich, und nur mündige, informierte und reflektierende Bürgerinnen und Bürger können die Chance freier, demokratischer Wahlen wirklich nutzen. Der demokratische Diskurs lebt vom Dialog, von verschiedenen Standpunkten, von der Vielfalt der Meinungen. Eine diverse Buchbranche befördert diesen Diskurs und unterfüttert ihn mit profunden Fakten. Damit setzt die Branche »Fake News« geprüfte Gedanken entgegen.
Der Börsenverein fördert gesellschaftliche Diskussionen zum Beispiel durch Preise und Auszeichnungen: Neben dem genannten Friedenspreis schafft etwa der Deutsche Buchpreis Aufmerksamkeit für die Perspektiven deutschsprachiger Autorinnen und Autoren. Der Deutsche Sachbuchpreis, der am 17. Juni erneut verliehen wird, stellt die Bedeutung des Sachbuchs als Grundlage von Wissensvermittlung und Reflexion in den Fokus.
Das konsequente und souveräne Einstehen für demokratische Grundwerte, für Pluralismus und Toleranz ist angesichts der stärker werdenden rechtsextremen Strömungen wichtiger denn je. So initiierte der Börsenverein die Woche der Meinungsfreiheit, um die Bedeutung der Meinungsvielfalt und lebendiger Debatten in den öffentlichen Fokus zu rücken – in diesem Jahr mit über 90 Veranstaltungen bundesweit.
Neue Antriebe
Technologische Innovationen verändern das Lesen, das Publizieren – und das Verstehen. Sie verändern Prozesse und Märkte und das Verhalten der Leserinnen und Leser. KI eröffnet Chancen, mit denen wir uns im Verband auseinandersetzen, wie z. B. bei Cross-Media-Strategien oder der personalisierten Kundenansprache. Gleichzeitig bedroht KI aber auch die Grundlagen des Publizierens: Wenn Maschinen ohne Zustimmung und ohne Vergütung auf Texte zugreifen, die urheberrechtlich geschützt sind, dann entsteht ein System, das sich an geistigem Eigentum bedient, ohne es zu würdigen. Ein solches System kann nicht nachhaltig sein. Denn ohne Autorinnen und Autoren, ohne Verlage, ohne Lektorate und Vertrieb gäbe es diese Inhalte nicht. Deshalb braucht es politische Regelungen, die Kreativität schützen!
Aber natürlich stellen sich die Unternehmen der Buchbranche und der Börsenverein als vitale Organisation auch die Frage: Wie bleiben wir attraktiv für Nachwuchs, der sich für diese und zukünftige technologische Herausforderungen gerüstet fühlt? Dabei arbeiten wir eng mit dem Tochterunternehmen Mediacampus Frankfurt zusammen, das unterschiedlichste Bildungsangebote für Auszubildende und Berufstätige in Verlagen und im Buchhandel bereithält.
Neue Gewohnheiten
Lese-, Einkaufs- und Freizeitverhalten verändern sich. Die Zeit zum Lesen scheint zwischen Netflix, Instagram und YouTube knapp zu werden. Dennoch genießt das Buch weiterhin hohes Ansehen, und wir beobachten, dass sich verstärkt wieder junge Menschen fürs Buch begeistern, ein Trend, der sich auch durch die sozialen Medien manifestiert. Über 25 Millionen mit dem Hashtag #Booktok empfohlene Bücher wurden 2024 in Deutschland verkauft, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr.
Dieser neuen Lesefreude unter jungen Menschen steht jedoch eine Entwicklung entgegen, die wir mit großer Sorge beobachten: die zunehmende Leseschwäche bei Grundschulkindern, aber auch bei Jugendlichen und Erwachsenen. Leider korreliert mangelndes Leseverständnis mit schlechteren Bildungs- und Berufschancen. Deshalb fordern wir von der Politik dringend echtes Engagement in Sachen Lese- und Bildungsförderung! Und deshalb setzt sich der Börsenverein gemeinsam mit Partnern und Förderern konsequent für Leseförderung ein.
Neues Handeln
Die Lage auf dem Buchmarkt ist – wie in der gesamten Wirtschaft – angespannt. Zwar kann die Buchbranche in diesen Zeiten ihre Umsätze halten, doch auch sie hat gegen die allgemeine Kaufzurückhaltung und Verunsicherung anzukämpfen. Viele Branchenunternehmen sind wegen des anhaltend hohen Kostendrucks am Limit. Dieser Druck lässt sich weder durch die moderat gestiegenen Ladenpreise kompensieren noch durch Einsparungen. Im Gegenteil: Die Kosten steigen durch ständig neue bürokratische Hürden sogar noch. Als Verband sehen wir unsere Rolle darin, die Politik mit unnötigen Hürden zu konfrontieren, neue Lösungsansätze wie eine gezielte Verlagsförderung und die Fortschreibung des Kulturpasses zu liefern und bewährte Mittel zur Stabilisierung der Branche, wie die Buchpreisbindung, in den Fokus zu rücken.
Förderung von Kultur ist eben keine Subvention, sondern Investition in die Zukunft der Gesellschaft und der Demokratie!
Selbstverständlich macht sich die Branche nicht von Förderung abhängig. Mit großem Innovationsgeist entwickeln Verlage und Buchhandlungen kreative Konzepte, um ihr Geschäft, aber auch die gesamte Branche voranzubringen. In vielen Städten setzen sich Buchhandlungen zusammen mit Partnern vor Ort dafür ein, dass Stadt- und Ortszentren wieder lebendiger und attraktiver werden. Verlage erproben neue Publikationsformate und Vermarktungswege oder Konzepte im Bereich Nachhaltigkeit. Das Teilen von Erfolgsgeschichten bietet Auftrieb und Inspiration. Mit dem Jubiläumskongress bietet der Börsenverein eine Plattform, von der alle Teilnehmenden etwas Handfestes für ihre Arbeit mitnehmen können.
Voneinander lernen, der Austausch über Erfahrungen, Erfolge und Misserfolge – das ist zeitgemäßes lebenslanges Lernen. Nicht umsonst war es bereits bei Gründung des Verbands vor 200 Jahren ein Ziel, die Branchenmitglieder miteinander zu vernetzen – das bleibt es heute und morgen. Die Buchbranche braucht jetzt und in Zukunft eine starke und solidarische Gemeinschaft und eine wirkungsvolle Interessenvertretung. So können wir auch in Zukunft neue Kapitel aufschlagen und die Geschichte der Branche und der Gesellschaft weiterschreiben.