Sabrina Habel: Frau Kupferberg, Sie forschen zu Bildern. Was haben Bilder mit »gesellschaftlichem Zusammenhalt« zu tun?
Yael Kupferberg: Der Zusammenhang von Bildern und gesellschaftlichem Zusammenhalt stellt sich über die Beobachtung her, dass das »Bild« als Gattung in unserer digitalen Kommunikation dominierend ist. Insofern stellt sich die Frage, wie »Welt« angeeignet wird, welche ästhetischen Erfahrungen gemacht werden und wodurch »Gesellschaft« erzeugt wird. Darüber hinaus aber interessiert mich, wie und ob Antisemitismus – und dies ist die Hypothese – durch diese spezifische Erfahrung – Vorschub geleistet wird. Im Mittelpunkt meiner Forschung steht insofern das philosophische Nachdenken über ein bestimmtes Verhältnis zum Bild.
Das Bild, das in seiner Formsprache affektiver wirkt als die Schrift, stützt eher »Gemeinschaft«. »Gemeinschaft« kann als ein vor-politischer sozialer Zusammenhang gelten, der eher in affektiven, emotionalen und familial geprägten Beziehungen gründet. Das »Bild« eint seine Rezipienten scheinbar. Es zielt in der Projektion der Betrachter auf Affekte und stellt diese auch scheinbar her. Der projektive Blick des Betrachters empfindet ein bildhaftes Sendungsbewusstsein, das auf die Betrachtenden zurückwirken kann. Das affektiv Gesehene, die visuelle Erfahrung spiegelt die eigene Projektion. Und es begehrt die Bewertung – das »Like«, das Bekenntnis und das Teilen. Insofern übt das Bild einen projizierten und projektiven Druck aus: Es mobilisiert zur affektiven Teilnahme. Ob diese bildhaft erzeugte Öffentlichkeit tatsächlich den gewünschten, aufgeklärten »Zusammenhalt« fördert, den sich eine demokratische und differenzierte Gesellschaft wünscht, bleibt abzuwarten – um es vorsichtig zu formulieren.
Das Bild eint aber nicht nur durch Affekte. So unterschiedlich Bilder genutzt werden und sind, sie verwickeln die empfänglichen Betrachterinnen und Betrachter in eine Beziehung zur und in eine Anschauung von Welt. Das Bild zeigt, was vermeintlich »so ist« und macht es scheinbar erfahrbar. Es wird zum Medium von Weltanschauung, zum Tatsachenbeweis, den man mit einer Gruppe von Rezipientinnen und Rezipienten teilt. Walter Benjamin spricht in diesem Zusammenhang von »gefühltem Wissen«. Bilder dienen, so der Soziologe Emil Durkheim, der Identifikation und der Vergemeinschaftung.
Sie forschen auch zur Verbindung von Bildlichkeit und Religionsgeschichte. Was hat das Bild mit Religion zu tun?
Die »westliche«, durch das Christentum geprägte Kulturgeschichte kann, freilich nicht ausschließlich, als eine Kult-Geschichte des Bildes gelesen werden. Der religiöse Bildgebrauch, der sich vom jüdischen Bilderverbot absetzte, setzte im christlichen Kontext im 3./4. Jahrhundert ein. Er stieß im noch jüdisch geprägten frühen Christentum eher auf Ablehnung, bis er dann zur kultischen und politischen Formsprache wurde und der kirchlichen Manifestation und Repräsentation diente.
Jesus Christus wurde – um es verkürzt zu sagen – zum kanonischen und ikonischen Bezugspunkt – neben der Heiligen Schrift. Mit Christus wurde das Wort »Fleisch«, der Körper zur Ikone, zum Ikon (Bild). Damit avancierte das Bildliche zu einer religiösen Gattung, die »Wahrheit« beherbergen konnte und diese auch beanspruchte. Diese religiöse Aufladung des Bildes förderte einen bestimmten Habitus: Die Betrachterinnen und Betrachter sollen das Bild beglaubigen und das Bild selbst beglaubigt in der Projektion das religiöse Dogma der Inkarnation. Mit der Aufweichung des jüdischen Bildverbots hin zu einem affirmativen, kultischen Verhältnis zum Bild wird also beglaubigt, dass »Sinn« und »Wahrheit« (und Gott) konkret und bildlich darstellbar sind, dass das Bild »Wahrheit« vermittelt.
Heißt das, dass diese Religionsgeschichte des Bildes unser Sehen immer noch bestimmt? Ist die Weise, in der wir Bilder sehen, eine nicht-säkulare? Das ist ja eine Idee, auf die man gar nicht kommt, wenn man etwa ein Meme betrachtet.
Ich meine, dass die Sehkultur von diesem christlichen Bilderkult beeinflusst ist. Philosophie, aber auch jüdisches Denken und Wissen, sind vom Wort geprägt und selbstverständlich gibt es auch Wortkulturen. Aber wo es um Bilder geht, wird diese Geschichte, die Anbetung des Sichtbaren im Christentum, mittransportiert. Diese Geschichte mag transformiert und säkularisiert sein, aber sie besteht als Habitus (Gewohnheit) und Sozialisierung im Verhalten zu Bildern.
Dass wir Bildern »Glauben« schenken, dass sie uns durch ihre Evidenz glauben machen, ist also nicht nur eine medientheoretische Überlegung, sondern auch eine religionsgeschichtliche. Nun forschen Sie nicht nur zum Bild, sondern auch zum Antisemitismus. Sie sprachen davon, dass im Christentum das Bild gegen die Schrift ausgespielt wird und das dieser Vorgang von anti-jüdischer Polemik begleitet war. Gibt es also eine Tradition des christlichen Antisemitismus, die explizit mit dem Bild verbunden ist und unsere Sehgewohnheiten ebenfalls beeinflusst? Gibt es eine Affinität von Antisemitismus und Bild?
Diese affirmative, positivistische Qualität, die dem Bild innewohnt, ist für ein Verständnis des Antisemitismus bedeutsam: Das Bild wird kulturell nicht einfach als etwas gelesen, das auf etwas verweist, sondern als etwas, das zeigt und damit beglaubigt, was ist. Antisemitische Bilder werden also zu einer self-fulfilling prophecy, zur Weltanschauung.
Als instrumentelle Aneignung von Welt erweist sich Antisemitismus in seiner Form und in seinem Ausdruck vor allem auch als bildhaftes Denken. Als eingeübter Modus erscheinen daher nicht allein antisemitische Hassbilder virulent. Die Formensprache des Antisemitismus ruft den Glauben an Evidenz, das Zielen auf eine statische, einprägsame und repräsentative »Wahrheit«, die beglaubigende Haltung des Betrachters und Selbstbeglaubigung des Inhalts auf, die dem Bild bzw. unserer kulturellen Sehgewohnheit zu eigen ist.
Verstehe ich das richtig: Der Antisemitismus ist also selbst bildlich strukturiert? Er operiert nicht nur mit Hassbildern, sondern folgt selbst einer bildlichen Logik? Er zielt deswegen auch aufs Körperliche und hat »den Juden« gleichsam zur »Anti-Ikone«. Das hieße, dass der Antisemitismus keine Traktate, Argumente und Schlussverfahren braucht, sondern die Kurzschlusslogik von Bildern reicht. Aber gibt es nicht auch – gerade in der Moderne – einen verwissenschaftlichten Antisemitismus, einen schriftlichen?
Selbstverständlich existiert eine Vielzahl an verschriftlichten, pseudowissenschaftlichen und literarischen Dokumenten, die rezipiert wurden und werden. Darin drückt sich gleichermaßen Antisemitismus aus. Das Christentum – und ich verallgemeinere hier – hat auch über das Wort antijüdisch agiert. Ich interessiere mich jedoch vorrangig für die Rezeption und Perzeption der bildhaften Formsprache, weil die Gesellschaft seit etwa gut zwanzig Jahren von einem neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit (Jürgen Habermas) – und zwar von Digitalisierung – geprägt ist. Die Kommunikativität ist auf der einen Seite abstrakter auf der anderen Seite bildhafter – beides kann Frustration erzeugen und diese im Antisemitismus ausagiert werden, weil er in fatalerweise Lustgewinn und soziale Anerkennung, überhaupt »Erfahrung« verspricht. Damit aber gefährdet Antisemitismus den gesellschaftlichen »Zusammenhalt« nicht nur, er kann diesen auch selbst – und hier würde ich von »Gemeinschaft« sprechen – erzeugen. Dies ist nicht allein eine historische Erfahrung, sondern diese Möglichkeit ist selbst in der Dynamik des Antisemitismus angelegt, und zwar dadurch, als dass er für den Einzelnen sowohl sozialen als auch psychologischen Gewinn verspricht. Dies ist nun die problematische Seite des Zusammenhalts; hier wird er über Diskriminierung, Ressentiment und Profilierung hergestellt. Der Begriff »Zusammenhalt« unterliegt einer potenziellen konflikthaften Valenz.
Sie haben beschrieben, wie für den Betrachtenden aus den Bildern Wirklichkeit wird. Können aus den antisemitischen Bildern auch antisemitische Taten werden?
Die ästhetische Aneignung der Welt durch das Bild berührt die Dimension der Erfahrung: Das Bild zeigt, was vermeintlich »so ist« und macht es für Rezipientinnen und Rezipienten erfahrbar, das Gezeigte wird zum Geteilten und Selbsterfahrenen. Als Erfahrung beansprucht die Wahrnehmung Geltung. Das antisemitische Bild verhärtet sich zur Wirklichkeit, die beglaubigt und reproduziert wird.
In einer Zeit, in der Kommunikation vermehrt bildhaft ist, und dies kann von dem 21. Jahrhundert mit der digitalen Wende nachvollzogen werden, besteht also nicht nur die Gefahr, dass die Sehgewohnheit dem Bild als Zeugnis und als Erfahrung Wahrheit zuspricht, sondern auch, dass man an diesen Bildern nachahmendes Verhalten einübt.
Eine letzte Frage: Sie haben das »richtige Sehen«, das Aufklären über die Bilder, das Hinterfragen von Sehgewohnheiten und Einüben von Kritik vorhin als gesellschaftlichen Auftrag entworfen. Wäre das also gleichzeitig auch ein Mittel zur Bekämpfung des Antisemitismus?
Ja, davon bin ich überzeugt. Ich meine, gerade weil die Formsprache des Bildes »affektiver« ist, gerade weil die Form scheinbar – in der Projektion der Betrachterinnen und Betrachter – binden kann, benötigen wir eine »visuelle Kompetenz« am Bild; einen distanzierten und emanzipierten Blick, der dem von uns produzierten »Begehren« des Bildes standhält und es als das liest, was es ist: Eine bestimmte Aneignung von Welt, die etwas über uns aussagen kann – und darin erkenntnisgewinnend ist.
Vielen Dank.