Über die begriffliche Unterscheidung von Antijudaismus und Antisemitismus, die Herkunft antisemitischer Vorurteile, Antisemitismus in der DDR und vieles mehr spricht Sven Scherz-Schade mit dem Professor für Politikwissenschaft und Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Gideon Botsch.

Sven Scherz-Schade: Herr Botsch, Einstiegsfragen in journalistische Interviews sollen einer Faustregel nach als so genannte »Eisbrecher« nicht allzu schwer und mit den großen Problemen gleich am Interviewanfang daherkommen. Es fällt mir schwer, diese Regel bei unserem Thema »Geschichte des Antisemitismus« zu beherzigen. Sie forschen als Historiker dazu, befassen sich also als Wissenschaftler hauptberuflich mit den düstersten Angelegenheiten der Menschheit. Deshalb frage ich mal als Einstieg aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel: Wann ist Ihnen in Ihrer Forschung und Arbeit das letzte Mal etwas begegnet, das Sie froh und glücklich gestimmt hat?

Gideon Botsch: Sie dürfen sich das nicht so vorstellen, als wäre mein Beruf ein Trauerlauf. Ich freue mich sehr über die Kontakte zu Studierenden und zum jüngeren Kollegium. Was mich besonders freut: In den letzten Jahren erleben wir im Post-Shoah-Deutschland eine Generation junger Jüdinnen und Juden, die mit gestiegenem Selbstbewusstsein und auch mit fröhlicher Frechheit an Themen herangeht, wie wir das in den Jahren meiner Jugend und davor nicht gehabt haben. Das finde ich eine schöne Situation.

Antijudaismus gibt es seit der Antike. Von »Antisemitismus« spricht man erst in den letzten hundert, zweihundert Jahren. Warum wird hier begrifflich unterschieden?

In der Geschichtswissenschaft gilt folgende methodologische Praxis: Wenn in der Geschichte ein neuer Begriff auftaucht, markiert er in der Regel auch einen Wandel. Form, Funktion oder sogar ganze Konstellationen können sich wandeln. Der Begriff »Antisemitismus« ist seit 1880 nachweisbar und er hat seine Vorgeschichte im Verlauf des 19. Jahrhunderts und davor. In dieser Zeit erst wurden die semitischen Sprachen beschrieben und klassifiziert. Es scheint offenkundig, dass sich im 19. Jahrhundert etwas an der Form der Judenfeindschaft ändert, was mit der Durchsetzung der Moderne zusammenhängt. Das Spezifische an dieser »modernen« Judenfeindschaft ist, dass sich die Feindschaft gegenüber Juden von ihren religiösen Wurzeln unabhängig macht. Die religiöse Konnotation taucht natürlich noch weiterhin auf, aber die Judenfeindschaft ist nicht mehr davon abhängig. Der heutige Antisemitismus lässt sich nichtreligiös begründen, oder sogar antireligiös. Die Judenfeindschaft als Antisemitismus bezieht sich auf Entwicklungen und Strukturen in der Moderne, die als negativ empfunden werden und damit wird auch eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte markiert. Die Erscheinungsform der Judenfeindschaft ändert sich. Deshalb sprechen die Geschichtswissenschaften von »Antisemitismus». Man kann »Antisemitismus« beispielsweise in den Sozialwissenschaften auch anders definieren, so dass man sich auf ältere Epochen zu beziehen hat. Es gibt da ja keine verbindlichen Absprachen.

Haben speziell die Geschichtswissenschaften eine Definition für den Terminus »Antisemitismus«?

Eine historische Herangehensweise wäre kurz gesagt: Moderne Judenfeindschaft, die den Prozess der Modernisierung und der Säkularisierung mitgegangen ist.

Antisemitische Vorurteile werden über Generationen kolportiert, mal mehr, mal weniger im Wissen und Bewusstsein derer, die die Vorurteile kolportieren. Ein antisemitisches Vorurteil etwa schiebt den Juden Reichtum und Gier zu. Kann man die Herkunft solcher antisemitischen Vorurteile zurückver­folgen?

Methodisch muss man immer fragen, wo und in welchem Kontext uns bestimmte Motive der Judenfeindschaft oder Antisemitismus zum ersten Mal begegnen. Welche Ursprünge gibt es, welche weitere Entwicklung und welchen Wandlungsprozess? Das kann man versuchen herauszufinden und in manchen Fällen gelangt man vielleicht auch an den Ursprung zurück. Das Vorurteil »reich« und »gierig« ist historisch sicherlich gut zu verorten. Die Existenz der Juden wird in der nichtjüdischen, christlichen Umwelt durch bestimmte Verfahren der Diskriminierung und Gesetzgebung darauf begrenzt, eine Funktion im Geldverleih wahrzunehmen. Funktionen, die wiederum Christen verboten sind. In der muslimischen Welt läuft das parallel, aber nicht mit der gleichen Aggressivität. So haben wir phasenweise im Handel mit Geld und Zins in Europa eine jüdische Präsenz, während andere Berufsgruppen für Juden sehr beschränkt sind. Kaufmännische oder handwerkliche Berufe sind ihnen verwehrt, sie dürfen kein Land erwerben. Der Blick auf die reale Erscheinungsform zeigt, dass die Konditionen des Zinses für den Kreditnehmer oftmals gar nicht so schlecht sind. Das hängt damit zusammen, dass Juden als Kreditgeber auch besonders vorsichtig sein müssen, weil sie Anfeindungen ausgesetzt sind. Stereotyp und Vorurteil aber lassen sich durch diese Konstellationen sehr leicht mobilisieren. Die Wurzel davon können wir ziemlich klar im Geldhandel des Mittelalters bestimmen. Wobei es gibt auch hier Vorläufer. Auch schon im Römischen Reich gehörte die jüdische Diaspora – also die Juden, die nicht in Judäa lebten – zu denjenigen Gruppen, die wie etwa die Phönizier eine besondere Rolle im Handel gespielt haben. Dass es aber zu einem aggressiven Vorurteil wird, ist meines Erachtens eine Angelegenheit des Mittelalters.

Auch der staatlich angeordnete Antisemitismus, der im antisemitischen Staatsterror 1933 bis 1945 gipfelte, hat seine Vorgeschichte. Kann man auch hier Ursprünge und Wurzeln ausmachen?

Die Rechtsposition der Juden im alten Heiligen Römischen Reich ist, dass sie persönliches Eigentum des Kaisers sind. Er kann sie, salopp gesagt, wie Sklaven an seine Vasallen verleihen, die dann wiederum ihren Nutzen aus den Juden ziehen können. Das ist die alte Situation. Diese besondere weltliche Rechtsprechung wird ein bisschen durch die kirchliche Rechtsprechung konterkariert, die die Juden ja ausgrenzt. Hier wird das Spannungsverhältnis zwischen Welt und Kirche, dem Reich auf Erden und dem Reich Gottes, deutlich. Der Historiker und Holocaustforscher Raul Hilberg und auch der Soziologe und Politikwissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen, beide haben eine Parallelisierung der kirchenrechtlichen Ausgrenzung der Juden seit der Spätantike und im Mittelalter mit den NS-Rassegesetzen beschrieben. Was man auch vergleichen kann, ist das spanische Ausnahmerecht seit dem 14. Jahrhundert, das tatsächlich der späteren Rassegesetzgebung vorzugreifen scheint. Hier zeigt sich eine Reihe von Parallelen. Zu berücksichtigen gilt: Der Staat im Übergang zum modernen Nationalstaat damals definiert sich als ein christlicher Staat. Und die Debatte, die um diesen christlichen Staat etwa in Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert an Fahrt aufnimmt, richtet sich auch auf die Frage, welche Rechte die Juden im Staat haben. Können sie z. B. das Lehramt ausüben, Beamte oder Offiziere werden? Nach dem Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen werden in ganz Deutschland, also in allen deutschen Teilstaaten, heftige Debatten darüber geführt. Dort kann man Ursprünge der späteren Entwicklung schon feststellen. Wir haben in den Jahren bis zur Reichsgründung Regionen in Deutschland, wo Juden systematisch von Staatsämtern ausgeschlossen werden. Strukturell bleibt diese staatliche Diskriminierung als Problem während des gesamten Kaiserreichs bestehen.

Die antisemitischen Vorurteile waren damals schon so falsch wie sie es noch heute sind. Trotzdem wird aber heute z. B. dem Antisemitismus des 19. Jahrhunderts häufig ein gewisses Verständnis entgegen­gebracht mit der Argumentation, diese oder jene antisemitische Haltung sei damals eben gesellschaftsfähig bis üblich gewesen. Schreibt man damit die Geschichte des Antisemitismus fort in die Zukunft?

Wenn wir diese rechtfertigende Haltung einnehmen, kommen wir nicht an die schmerzlichen Debatten heran, die wir führen müssen. Selbstverständlich muss man erklären und kontextualisieren. Und selbstverständlich muss man unterscheiden zwischen Personen, die sich in öffentlichen Debatten – oder gar durch Organisationen, Politik und Gewalt – judenfeindlich geäußert haben und Personen, die in privaten Briefen judenfeindlich geschrieben haben, etwa wie bei Wilhelm von Humboldt und seiner Frau Caroline. Da darf man nicht alles über einen Kamm scheren. Man muss wissen, dass das gesellschaftliche Vorurteil gegen Juden in dieser Zeit weit verbreitet ist. Was wir uns klar machen sollten, ist, wie stark der gesamte Bereich unserer Kultur und Zivilisation von antijüdischen Wirklichkeitswahrnehmungen durchzogen ist und wie tief das geht. Wir bauen auf einer Kultur auf, die – wie es der Historiker David Nirenberg in einer glänzenden Übersichtsstudie versucht hat zu zeigen – daran gewöhnt ist, dass es bestimmte Positionen, Verhaltensweisen und -muster gibt, die gesellschaftlich abgelehnt und mit dem Begriff des »Judaisierens« gefasst oder als »jüdisch« oder »den Juden ähnlich« dargestellt werden. Und diese Ansichten schleichen sich in unsere Köpfe und Gedanken, wo wir uns dessen gar nicht bewusst sind. Das geschieht ganz parallel auch bei der Wirklichkeitswahrnehmung, die heute im postkolonialen Kontext andere außereuropäische Menschen immer durch eine bestimmte Brille sieht. Wobei es hier einen Unterschied gibt: Die Funktionen negativer Zuschreibungen sind gegenüber Juden viel breiter. Denn einerseits können sie als arm, minderwertig, schmutzig, ungebildet oder ähnliches abgewertet werden. Andererseits kann das Judentum aber auch als eine gewaltige, gefährliche, weltbeherrschende Macht gesehen werden und das geht in seiner negativen Zuschreibung weit über das hinaus, was wir als bloße Vorurteile oder als Rassismus bezeichnen. Das Phänomen des Antisemitismus reicht weiter.

Die sozialistischen Staaten hatten sich den Antifaschismus auf die Fahnen geschrieben. Wie war es um den Antisemitismus in der DDR bestellt?

Unter den Ostblockstaaten im Kalten Krieg ist die DDR sicherlich nicht dasjenige Land, in dem sich Antisemitismus am dramatischsten auswirkte. Nach dem antisemitisch motivierten Slánský-Prozess 1952 in Prag verlassen viele Juden die DDR. Das ist ein großer Aderlass. Wir haben auch in der DDR antisemitische Vorurteile, Stereotypen und Verhaltensweisen seitens Partei und Staatsorganen. Und natürlich gibt es die antizionistische Haltung zu Israel. Guckt man sich die Dokumente dieser Zeit an, sieht man in der Propaganda sehr deutlich, dass die DDR in ihrer Feindschaft gegenüber Israel auch antijüdische und antisemitische Vorurteile bemüht.

In Westdeutschland hingegen wurde der Antisemitismus lange ausschließlich dem rechtsradikalen Lager zugeschoben. Aber war er nicht genauso in der Mitte der Gesellschaft anzutreffen? Was wissen wir heute darüber?

Wir können mit Sicherheit sagen, dass Antisemitismus ein Querschnittsproblem ist. Der Antisemitismus im Rechtsextremismus unterscheidet sich davon insofern, weil er dort konstitutiver Bestandteil rechtsextremer Ideologien ist, dort fest dazugehört und auch aggressiv propagiert wird. Im anderen Teil der Gesellschaft hingegen ist der Antisemitismus mal mehr, mal weniger stark anzutreffen, aber er durchzieht die Gesellschaft. Aufgrund der messbaren Daten aus Einstellungsbefragungen kann man generell sagen, dass antisemitische Vorurteile tendenziell leicht rückläufig sind. Wir haben auch Phänomene der Menschenfeindlichkeit, die deutlich ausgeprägter sind. Dazu etwa gehören die immer noch stabilsten, massivsten Vorurteile, die wir messen können, gegen Sinti und Roma, was wir als »Antiziganismus« bezeichnen. Der Antisemitismus jedoch verläuft leicht rückläufig, allerdings mit markanten Ausschlägen, die mit bestimmten Mobilisierungswellen zu tun haben. Sie treten insbesondere nach bestimmten Ereignissen im Nahost-Konflikt auf. Dann stellen wir auch Verstärkungen der antisemitischen Einstellungen fest.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022.