Es wird das Recht auf die Straße verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.« Mit diesen forschen Sätzen verewigte sich der Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow im Februar 1910 in den Annalen der Geschichte der Straßendemonstrationen. Zwei Jahre zuvor hatte das neue Reichsvereinsgesetz in § 7 festgelegt: »Öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge auf öffentlichen Straßen oder Plätzen bedürfen der Genehmigung der Polizeibehörde.« Sie waren also nicht per se verboten, mussten lediglich genehmigt werden. Und genau um dies, polizeilich genehmigte Versammlungen politischen Charakters mit hunderttausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchzusetzen, ging es der Sozialdemokratie und ihren linksliberalen Bündnispartnern in den Jahren des »Wahlrechtssturms« von 1908 bis 1910. Die Kampagne richtete sich gegen das die Proletariermassen diskriminierende Klassenwahlrecht in Preußen, Sachsen und anderen deutschen Bundesstaaten sowie gegen den allgemeinen Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht. Die überkommene Legitimität dieser Diskriminierung galt es durch Bilder tendenziell unbegrenzter Menschenmengen, die die Prinzipien der Gleichheit und der Solidarität im Wortsinn verkörperten, zu untergraben.

Von Jagows weltfremdes Pochen auf die ausschließliche Verkehrsfunktion des Straßenraums stieß 1910 nicht nur bei den kleinen Leuten, sondern auch bis weit in die bürgerlichen und adligen Eliten hinein auf Hohn und Spott. Das passte nicht in die moderne Zeit des 20. Jahrhunderts. Noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs lernten vor allem die preußischen Polizeibehörden mit großen geordneten politischen Demonstrationen als Teil des städtischen Alltags umzugehen. Der Weg dahin war allerdings lang und beschwerlich gewesen. Die im 19. Jahrhundert einsetzende erste Welle der Demokratisierung in Europa hatte die deutschen Staaten kaum erreicht. In England fanden zur Vorbereitung von Parlamentswahlen bereits im 18. Jahrhundert Versammlungen unter freiem Himmel statt, die sogenannten »hustings«, auf denen Kandidaten im Wettstreit redeten. Oftmals kam es dort zu Tumulten. Während der Französischen Revolution entfalteten die Volksmenge und ihre Versammlungen eine ihnen eigene machtpolitische Sprengkraft, da sie dank Bewaffnung und organisierter Ausrichtung unmittelbar zum physischen Angriff auf die bestehende Ordnung übergehen konnten. Diese potenziell umstürzende Handlungsmacht von Menschenmengen und die daraus resultierende Herrschaft der Jakobiner im revolutionären Frankreich hat sich dann als traumatische Erfahrung tief in die Köpfe und Herzen auch der deutschen Eliten des 19. Jahrhunderts eingebrannt. Anders als in Frankreich und Großbritannien entwickelte sich trotz zunehmender Parlamentarisierung des politischen Lebens, trotz der in bürgerlichen Vereinen und Salons eingeübten Praxis der Streitkultur und trotz einer zunehmend pluralen Presselandschaft keine diese begleitende Demonstrationskultur. Die Ausdehnung des Wahlrechts für den Reichstag des 1871 gegründeten Kaiserreichs auf alle erwachsenen Männer machte Versammlungen von Wählern und den von ihnen gegründeten Wahlvereinen in den Städten erforderlich. Diese fanden aber nur in großen Sälen statt, in denen Kandidaten verschiedener Parteien nach den Regeln der parlamentarischen Geschäftsordnung stritten. Derweil achtete vor den Eingängen polizeiliche Ordnungskräfte darauf, dass es ja nicht zu unerlaubten Ansammlungen kam. Soweit ein Rückblick auf die Entstehung des Kulturmusters »Straßendemonstration« in Deutschland und seine Vorgeschichte. Ein Ausblick auf das 20. Jahrhundert zeigt, dass seine weitere Entwicklung aufs Engste damit verbunden ist, wie gut oder schlecht es um die Demokratie stand. Allgemein formuliert: Einer allgemeinen Verrohung in den parlamentarischen und gesellschaftlichen Debatten entsprechen Nutzungen des Demonstrationsrechts, die den politischen Gegner zum Feind in einem imaginierten Bürgerkrieg degradieren – so geschehen in der späten Weimarer Republik. Umgekehrt lassen sich bei allgemeiner Anerkennung der Prinzipien einer demokratischen Streitkultur auch von der Straße her politische Innovationen anstoßen und nachhaltig etablieren. Das stärkt die Legitimität der Demokratie als politische Ordnung.

Die totalitären Gegner der Weimarer Republik, die Nationalsozialisten wie die Kommunisten, lehnten das Prinzip der ergebnisoffenen, streitigen und dennoch gewaltfreien Aushandlung unter Gleichberechtigten grundsätzlich ab und wollten es abschaffen. Dazu nutzten sie die Handlungsräume der demokratischen Streitkultur in destruktiver Weise: Ihre Abgeordneten obstruierten die Arbeit der Parlamente, ihre Stoßtrupps sprengten die Versammlungen der politischen Gegner, ihre Demonstrationszüge dienten der gewaltsamen Einschüchterung von »Volks-« und »Klassenfeinden«. Nach Errichtung der totalitären Herrschaft unterlag die Nutzung der überkommenen Formen der Streitkultur der strikten Zensur und dem Monopol des Parteistaats. Dabei kam in der nationalsozialistischen Diktatur Massenversammlungen und -aufmärschen eine wesentlich größere Bedeutung für die Systemlegitimierung zu als den verkümmerten Resten von Parlamenten und politischen Versammlungen. Deren Aggressivität und Gewalt mobilisierte gegen Regimegegner und vorgestellte »Volksfeinde« im Innern wie im Äußeren, bis hin zur physischen Vernichtung.

Die kommunistische Diktatur verfuhr mit den überkommenen »bürgerlichen« Kulturmustern der Demokratie auf andere Weise – sie funktionierte sie um: Sie hielt an politischen Versammlungen nach parlamentarischem Brauch und Straßendemonstrationen im herkömmlichen Sinne fest, machte aus diesen ursprünglich den geordneten politischen Streit ermöglichenden Interaktionen aber sorgfältig orchestrierte Inszenierungen einer unverbrüchlichen Einheit zwischen Partei, Staat und Gesellschaft, in der für offenen Dissens und Opposition einer Minderheit kein Platz vorgesehen war.

Eingedenk der destruktiven Umfunktionierung der Straßendemonstrationen durch die Totengräber der Weimarer Republik tat sich die nach 1945 in den Westzonen wiederaufgerichtete demokratische Ordnung lange Zeit schwer damit, ein konstruktives Verhältnis von politischer Streitkultur im allgemeinen und Demonstrationskultur im Speziellen zu entwickeln. Wie schon im späten Kaiserreich erlangten Demonstrationen in der Bundesrepublik dann besondere Brisanz, wenn sie Themen und Anliegen in die Öffentlichkeit trugen, die in offiziellen Versammlungs- und Entscheidungsforen schwach oder gar nicht vertreten waren. Die Kampagne gegen die Wiederbewaffnung und gegen die atomare Aufrüstung in den 1950er Jahren sind hier ebenso anzuführen wie »außerparlamentarische Opposition« der 1960er Jahre. Zugleich schlug der gesellschaftliche Wertewandel auch auf die Formen des politischen Streitens durch: Die Jungen stellten Vorrechte von Alter und Status sowie die damit verknüpften Konventionen grundsätzlich infrage, negierten die Erforderlichkeit hierarchischer Ordnungen und stellten Spontaneität und Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt. Demonstrationen mutierten nun von der Re-Präsentation einer geordneten Bewegung zu antiautoritären Happenings und inszenierten sich auch als anti-parlamentarisch. Daraus entwickelte sich eine Eigenlogik des begrenzten Konflikts mit den Polizeikräften, die ihrerseits, nach Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968, ihr Gewaltarsenal entmilitarisierten. Damit waren Gewalteskalationen bei Demonstrationen keineswegs ausgeschlossen, ganz im Gegenteil, sie blieben aber im Großen und Ganzen unterhalb der Schwelle zu Bürgerkriegshandlungen auf Handgreiflichkeiten und Wurfgeschosse auf der zivilen, und die Anwendung polizeitaktischer Waffen auf der Seite der Staatsgewalt begrenzt. Zugleich stärkte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Stellenwert von Demonstrationen, indem es der Polizei auferlegte, die Ausübung des Grundrechts der Meinungsfreiheit auch in Gestalt von Versammlungen unter freiem Himmel aktiv zu schützen.

Das dialektische Hin und Her zwischen parlamentarischer Repräsentation – und damit dem in demokratischen Systemen zu verbindlichen Entscheidungen befugten Forum von Streitkultur – und außerparlamentarischer Demonstration als Beitrag zur politischen Willensbildung hält bis heute an. Davon bleiben auf lange Sicht auch moderne autokratische Ordnungen nicht verschont: Im Herbst 1989 trat in der DDR ein weiteres Mal das ein, was Diktatoren in allen Ländern auch noch heute den Schlaf raubt: Einige wenige von unten initiierte Straßendemonstrationen im entscheidenden Moment der eigenen – moralischen – Schwäche kosteten binnen weniger Monate erst die Kontrolle über die öffentliche Meinung, dann über die Menschen und schließlich über den Staatsapparat. So geschehen in der ersten Oktoberwoche des Jahres 1989 unter anderem in Dresden, Leipzig und Plauen. Die dann folgende Demokratisierung der DDR im letzten Jahr ihres Bestehens und die Entwicklung der demokratischen Ordnung in Ostdeutschland in den darauffolgenden Jahrzehnten steht im Guten wie im Schlechten für das dynamische Verhältnis von politischer Streitkultur und der in sie eingebetteten Demonstrationskultur. Ostdeutsche haben wie Westdeutsche ihre Anliegen und Forderungen auf die Straße getragen, um ihre Behandlung in den parlamentarischen Beratungen und Entscheidungen auf die Tagesordnung zu bringen. Zugleich gab es immer Gegentendenzen der Pervertierung von Straßendemonstrationen: Sie dienten als Ausgangspunkte zu Hetzjagden gegen Minderheiten, zur Einschüchterung von Amtsträgern und zu unverblümten Angriffen auf die Grundwerte der freiheitlichen demokratischen Ordnung. Die Degeneration der politischen Streitkultur im Allgemeinen schlägt auch auf die Straße durch. Nur mit »riot policing« und Staatsschutz ist dem nicht beizukommen. Die systematische Verächtlichmachung von Menschen, die sich in Parteien, Parlamenten und Zivilgesellschaft engagieren, und die Hassrede in »sozialen« Medien, die ungehindert den physischen Angriff auf politische »Feinde« propagiert, kommt auch auf der Straße an. Dort müssen wir dem genauso wie in den Foren der Kultur, der Zivilgesellschaft und der Institutionen, mit denen wir uns selbst regieren, entgegentreten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.