Seit 50 Jahren fotografiert Andreas Knipping Eisenbahnmotive. Er besitzt ein bis ins 19. Jahrhundert zurückreichendes Bildarchiv mit mehr als 100.000 Aufnahmen und schreibt auch Bücher und Zeitschriftenartikel zur Eisenbahngeschichte. Zuletzt veröffentlichte er »Die große Geschichte der Eisenbahn in Deutschland: 1835 bis heute«. Politik & Kultur gibt er Auskunft, was das Reisen mit dem Zug für ihn so faszinierend macht – und wie es sich verändert hat.

Was macht für Sie das Reisen mit dem Zug aus? Welche Bahnstrecke ist Ihre Lieblingsreiseroute?

Der Zug bietet die entspannteste Reisemöglichkeit. Der stetige Wechsel zwischen Lesen, Landschaftsbetrachtung, digital gestützter Arbeit, Schlafen, Essen und Gespräch macht auch maßvolle Verspätungen erträglich. Die Bewegungsfreiheit ist unvergleichlich höher als in Auto, Bus oder Flugzeug.

Die Auswahl besonders geschätzter Reiserouten reduziert sich leider, weil es für den Erlebniswert auf modernen Schnellverkehrsstrecken reichlich egal ist, ob hinter den Lärmschutzwänden die Schwäbische Alb oder die Altstadt von Fulda zu vermuten ist und ob der nicht enden wollende Tunnel unter dem Wienerwald oder unter dem Thüringer Wald verläuft. Sogar der zauberhafte Blick auf Donau und Dom in Ulm ist inzwischen verboten. Die noch vor 50 Jahren atemberaubend um jede Felsnase zwischen Meer und Gebirge geschlängelte ligurische Küstenstrecke zwischen Genua und der französischen Grenze ist fast auf ganzer Länge durch eine Fernverkehrs-U-Bahn ersetzt. Großes Panorama ist noch auf den klassischen Alpenbahnen von Wien über den Semmering nach Graz und von Salzburg über die Tauernroute nach Villach geboten. Geheimtipp in beiden Fällen: die Fortsetzungen durch Slowenien bis zur Adria.

Aber kein Zweifel: Die Mehrzahl der modernen Reisenden will nur schnell vorankommen und verzichtet auf den Eigenwert der Überwindung der geografischen Distanz. Zug oder Flugzeug sind zum Wartezimmer aufs Reiseglück geschrumpft, das erst am Zielort beginnen soll.

Wie hat die Geschichte der Eisenbahn die Art und Weise des Reisens beeinflusst?

Erst die Eisenbahn hat das Reisen zum Massenphänomen und zur Alltagserfahrung gemacht. Noch vor 200 Jahren waren Reisen – Vertreibung, Flucht, Arbeits- und Elendsmigration sind hier nicht das Thema – Privileg oder lästige Pflicht einer kleinen adeligen, intellektuellen und kaufmännischen Oberschicht. Das ohne Eisenbahn nicht denkbare Industriezeitalter generierte die massenhafte Notwendigkeit und Gelegenheit zur Geschäfts- und Dienstreise, zur gelegentlichen Heimfahrt der in Großstädte abgewanderten Angehörigen der neuen technischen Eliten, zum familiären Teilumzug in die ländliche Sommerfrische und zur märchenhaft luxuriösen und teuren Kontinentalquerung aus dem Regen und Schnee von London oder St. Petersburg nach Cannes, Davos, Venedig oder Bad Gastein.

»Mord im Orient-Express«, »Nachtzug nach Lissabon« … das sind nur zwei Beispiele für berühmte Bücher, in denen der Reise mit dem Zug eine besondere Bedeutung zukommt. Filme, Gedichte, Musikstücke ließen sich ebenso nennen. Die Bahnreise ist ein beliebtes Motiv in der Kultur. Was macht sie Ihres Erachtens so beliebt?

Der Fernzug ist Versuchslabor für ein faszinierendes Spannungsfeld zwischen großem Szenenwechsel außen und kleinem Binnenmilieu innen. Ständig neue Städtenamen, imposante Flussbrücken, beschauliche Täler, erhabene Gipfel und die flüchtigen Einblicke in fremdes Straßen-, Garten- und Werkstättenkolorit vermitteln uns das Gefühl für die Weite der Welt. Und zugleich sind wir – jedenfalls im heute fast ausgestorbenen klassischen Zugabteil – per Zufallsgenerator in eine vielstündige oder einst auch tagelange Intimität mit völlig fremden Menschen geworfen. Der Handelsvertreter mochte mit dem Schriftsteller ins Gespräch kommen, der kommunistische Abgeordnete mit dem Reichswehroffizier, die Kunstmalerin mit dem Gaswerksdirektor, der ausländische Geschäftsmann mit der Studentin. Auch wenn für mich persönlich das Gegenübersitzen im Abteil oder im Speisewagen nicht zu großer Liebe, politischem Projekt oder genialer Geschäftsidee geführt hat, erinnere ich mich doch gerne an eine Vielzahl von Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen den unterschiedlichsten Zielen zustrebten.

Welche berühmten Zugreisen gibt es heute noch? Was kennzeichnet diese?

Den Nostalgiker stimmt es traurig: Auf der Passage am Rhein oder auf dem Arlberg bei offenem Fenster den Fahrtwind zu spüren, in tage- und nächtelanger Fahrt die ungeheuren Distanzen von Köln nach Athen oder von Berlin an die bulgarische Schwarzmeerküste zurückzulegen, vom Bahnsteighändler Bier, heiße Würstchen, Zeitungen und Zigarren ins Abteil gereicht zu bekommen, vom Rhythmus der Schienenstöße in den Schlummer im Schlafwagen gewiegt zu werden und die Pfiffe der Lokomotive in den nächtlichen Träume zu integrieren, das alles ist vorbei und kommt in Zeiten von Billigflug, Bus und Hochgeschwindigkeitszügen nicht wieder.

Doch lohnt sich der gelegentliche Blick aus ICE, TGV, Thalys, Railjet oder Eurostar von Smartphone oder Tablet auf die parallele Autobahn, wo unsinnig motorisierte SUVs im Verhältnis zu den eigenen 250 oder 300 km/h fast zu stehen scheinen. Die kollektive Intelligenz der europäischen Regierungen und Bahnverwaltungen ist trotz Pech und Pannen nicht zu verachten. Man hat utopische Luftkissen- und Magnetschienenbahnen in der Science-Fiction belassen, wird auch Elon Musks »Hyperloop« dort einordnen und baut weiter an der Vernetzung historischer Trassen mit neuen Abkürzungen. Der Hightech-Zug schafft jeden Übergang von der schnurgeraden Expresslinie auf jene windungsreichen Strecken, die der Dampfzug vor hundert Jahren auch schon gemeistert hat.

Mein persönlicher Traum war der 2018 in Kiew gesehene Zug Chişinău – Kiew – Moskau. 2020 verpennt, 2021 Corona, 2022 Putin. Wird wohl nichts mehr mit meiner Rundfahrt München – Bukarest – Chişinău – Moskau – Berlin – München.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.