Besuch bei Georg Stefan Troller in Paris. Ich treffe den Fernsehfilmer, Buchautor und Drehbuchschreiber. Ich begegne aber auch dem aus Wien stammenden Juden, der im Sommer 1944 als amerikanischer Soldat zurück nach Europa kam.
All das hat eine Vorgeschichte eines nun 103-jährigen Lebens. In Wien als Sohn eines jüdischen Pelzhändlers am 10. Dezember 1921 geboren, wuchs der junge Georg Stefan in einer gutbürgerlichen Umgebung auf, ging zum Gymnasium und begann eine Ausbildung als Buchbinder.
Er war noch in Wien, als im März 1938 der bejubelte »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich erfolgte. Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 überlebte der noch nicht mal 17-jährige Georg Stefan im Keller des Buchbinders. Troller: »Wir mussten hier weg.«
Die Familie konnte sich ins tschechische Brünn durchschlagen. »Und wieder saßen uns die Deutschen auf den Fersen, verstärkt durch Österreicher und Sudetenländer«, erinnert sich Troller. Sein Vater kannte den Ehrenkonsul von Uruguay und »ergatterte Visa, versehen mit etlichen Stempeln«. Um aus Brünn herauszukommen, brauchten sie zusätzlich die Berechtigung, die Grenze zu überschreiten. Der für den jungen Troller von der »Gestapo-Einsatzgruppe Prag« ausgestellte »Durchlaßschein« berechtigte ihn, bis 1. Mai 1939 die Grenze des Reichsgebiets zu überschreiten. Er nutzte das.
In einem versiegelten Zug ging es quer durch die nächtliche Heimat erst nach Italien und von dort nach Paris. Das uruguayische Visum wirkte Wunder: »Jeder Stempel, der draufgedroschen wurde, galt als zusätzlicher Beweis einer Authentizität.« In Paris angekommen, kamen die Trollers in einem schäbigen Emigrantenhotel unter. Alle zwei Wochen mussten sie sich zwecks Aufenthaltsgenehmigung auf der Präfektur melden. Um aus Europa herauszukommen, musste der junge Troller mit Vater und Onkel in die »Zwangsresidenz nach Boulogne-sur-Mer, dem Haupthafen in die Neue Welt«. Doch inzwischen hatte Frankreich dem Reich den Krieg erklärt. Und zeitgleich wurden die Deutschen und Österreicher als unerwünschte Ausländer interniert. So kamen auch die Trollers in ein Lager, dazu diente eine kleine Schule mit drei Stehklosetts im Hof – für 100 Internierte.
Dann wurden sie in eine baufällige Kaserne gestopft. Die einzige Toilette war im Hof, die nachts nicht betreten werden durfte. Nach der Einführung der Dienstpflicht für ausländische Geflüchtete wurde Troller nun »prestataire«, einer dieser »Arbeitssklaven«, die in oft provisorischen Lagern schäbig untergebracht wurden, umgeben von Stacheldrahtzäunen. Troller musste erst auf einem Bauernhof schuften, dann wurde er zum Bau einer kriegswichtigen Munitionsfabrik am Strand des Ärmelkanals abkommandiert.
Bald erfuhren sie im Lager, dass die Wehrmacht Frankreich überrollt und die inzwischen neu gebildete französische Regierung des Marschall Philippe Pétain kapituliert hatte. »Nun waren also Nazi-Panzer da«, erzählt Troller. In dem Durcheinander konnte er mit ein paar Kameraden fliehen. »Wir konnten uns zur Kanalküste absetzen, wir wollten nach England, schafften das aber nicht mehr.« Mit einigen Zwischenstationen und Umwegen landete er Ende Juni 1940 wieder im nun besetzten Paris und traf seine Familie.
Dort blieben die Trollers ein halbes Jahr, der Winter 1940 näherte sich, und sie konnten sich in den Süd-Westen absetzen. Sie kamen nach Pau und später nach Marseille. Von dort wollte Georg Stefan nach Amerika, in die USA, doch da wollten viele hin. Es gab lange Schlangen von Menschen vor dem amerikanischen Konsulat, die ein Visum wollten. Troller: »Ich hatte Riesenglück. Als der Vizekonsul erfuhr, dass ich 18 bin, sagte er: Wir brauchen Soldaten! Und als ich in aller Eile geschworen hatte, keiner kommunistischen Gruppierung anzugehören, drückte der Vizekonsul höchstpersönlich den Stempel aufs Papier.« Dazu das Datum: 12. Mai 1941.
Auf einem von einer amerikanischen Hilfsorganisation gecharterten »verrosteten Kahn« ging es für Georg Stefan erst mal nur nach Casablanca. Dann erreichte er nach zweiwöchiger Überfahrt New York. Er fand eine Anstellung in einer Buchbinderei, das hatte er ja in Wien gelernt.
Doch bald kam für ihn alles anders. Er wurde einberufen und zu einem »richtigen fighting soldier« ausgebildet. Dann ging es mit dem Truppenschiff durch den Atlantik nach Marokko, das zu Vichy-Frankreich gehörte. Troller kam zu einer Truppe, die mit einem britischen Frachter nach Neapel gebracht wurde. In Italien überschlugen sich die Ereignisse. Nach einer lang andauernden Schlacht schafften die Alliierten im Mai 1944 den Durchbruch bei Cassino. Am 4. Juni 1944 marschierten sie in Rom ein.
Doch das italienische Schlachtfeld verlor nun für beide Seiten an Bedeutung. Denn zwei Tage später griffen die Alliierten mit der Landung in der Normandie die deutschen Besatzer Frankreichs an. Es sollte der entscheidende Schritt zur Befreiung Frankreichs und der Niederlage der Wehrmacht werden. Doch dazu bedurfte es auch einer Landung der Alliierten an der französischen Mittelmeerküste, und der amerikanische Intelligence Service suchte nun Soldaten mit Französisch-Kenntnissen. Mit einem verschmitzten Lächeln erzählt Troller: »Ich rezitierte aus einem Gedicht von Rimbaud, verstanden haben sie nichts, aber ich war angeheuert.« Nun war er in einem IPW-Team (interrogation of prisoners of war) Gefangenenvernehmer beim 179. Regiment der 45. Infanterie-Division. Die »Fünfundvierziger« nannten sich Donnervögel (Thunderbirds). Mit ihnen ging es erst mal wieder nach Neapel, dort war das Aufmarschgelände. Die Überfahrt Richtung Mittelmeerküste dauerte zwei Tage und am 15. August 1944 wurde die Infanterie an der Côte d’Azur an Land gesetzt. Troller: »Diesmal forderte niemand Stempel und Einreisevisum.«
Die deutsche Armee stand im Süden auf verlorenem Posten. Was folgte, beschreibt Troller so: »Im Blitzkrieg rollten wir das Rhônetal hoch, so schnell, wie die Deutschen sich absetzten, kamen wir gar nicht nach.«
In den folgenden Monaten rückten die Amerikaner immer weiter vor. Die deutschen Truppen gerieten weiter unter Druck. Viele Soldaten wurden festgenommen, Troller musste sie vernehmen und hatte Ende 1944 den Eindruck: »Die deutschen Gefangenen lechzten jetzt nach unserem Sieg.« Es kam zur Schlacht um Nürnberg. Am 20. April 1945 hisste die 45. Infanterie-Division nach viertägigem Kampf die US-Flagge im ehemaligen »Schatzkästlein des Reichs.«
Dann ging es weiter Richtung Süden, die Donau wurde überquert, in München zu nächtlicher Stunde einmarschiert. Troller erzählt von der »Besichtigung der Führerwohnung« am Prinzregentenplatz und der von den GIs geplünderten Privatwohnung Eva Brauns, der Frau Hitlers. Es war der 30. April 1945. Am selben Abend erfahren sie auch von Hitlers »Heldentod«. Im Quartier seiner Gruppe, einer zerschossenen Kaserne, wurde das – so notierte Troller – »mit Bier und Fräuleins gefeiert«.
Am 1. Mai 1945 fuhr er im Jeep zum nahegelegenen Konzentrationslager Dachau. Troller kennt das Datum, weil er es auf der Rückseite seiner Fotos notiert hat – aufgenommen mit einer einige Wochen vorher ergatterten LEICA. Als er im KZ ankam, waren die Überlebenden schon in Lazarette abtransportiert worden. Massenhaft sah und fotografierte er Leichen, halbnackt in gestreifter Kleidung, »aufeinandergetürmt wie Müll«, andere gestapelt in Güterwagen. Und er sah, wie Busladungen von Zivilisten von der Army herangekarrt worden waren. Sie sollten das alles sehen. Schweigend, verstört, geschockt standen sie vor den Leichenhaufen, zeigten, »ihr komplettes Überraschtsein«.
Am 8. Mai war der Krieg zu Ende. Trollers Vernehmungsteam »verstreute sich«, jeder in der neuen Militärverwaltung auf der Suche nach einem neuen Job. Troller fand einen bei »Radio München«, dem Sender der amerikanischen Militärregierung, dem Vorläufer des Bayerischen Rundfunks. Und dann wechselte er zur »Neuen Zeitung«, die im Verlag der US-Armee erschien. Troller: »Ich wurde Reporter, als Vorstufe zum Journalismus«.
Im Frühjahr 1946 wurde er ausgemustert. Zurück in den USA studierte er Anglistik und Theaterwissenschaft und erhielt dann ein Fulbright-Stipendium zum Studium an der Sorbonne in Paris. Doch anstatt dort zu studieren, ließ er sich von RIAS Berlin, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, als Hörfunkreporter engagieren. Es war der Beginn einer ihn und – wie sich zeigen sollte – den Journalismus prägenden Karriere.
Er blieb in Paris und entdeckte das neue Medium Fernsehen für sich. Beim WDR übernahm er 1962 das Magazin »Pariser Journal«, das er 50-mal »aufblätterte« – so hieß es jeweils im Abspann. Ab 1972 folgte die ZDF-Fernsehreihe »Personenbeschreibung«, in der er Prominente und unbekannte Zeitgenossen vorstellte.
Und Troller, der im Jahr 2022 wieder die österreichische Staatsangehörigkeit angenommen hat, schrieb zahlreiche Bücher. Mehrfach wurden sie als letzte angekündigt. Zuletzt erschien 2021 sein Band »Meine ersten 100 Jahre«. Wirklich das letzte?