Das Kirchenmanifest will dazu anregen, über andere Nutzungsarten der Kirchengebäude nachzudenken, angesichts der Tatsache, dass Kirchen immer leerer, dass manche Kirchen gar nicht mehr genutzt werden oder kurz vor dem Abriss stehen. Olaf Zimmermann und Johann Hinrich Claussen im Gespräch über das Manifest und die zukünftige Nutzung von Kirchenbauten.

 

Barbara Haack: Ihre Kritik an diesem Manifest, Herr Claussen, ist, dass die Kirchen selbst in die Entstehung dieses Manifests nicht eingebunden waren.

Johann Hinrich Claussen: Erst einmal will ich sagen, dass ich mich über dieses Kirchenmanifest freue, weil es ein kirchliches Problem als gesellschaftliches Problem versteht und einen gesellschaftlichen und politischen Diskurs darüber in Gang setzt. Beim Zustandekommen so eines Manifests gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man lässt die Kirchenvertreter raus. Oder aber man bindet die Kirchen ein. Dann hat man die Chance, die vielen Prozesse, die in den Kirchen schon laufen, zu berücksichtigen. Vieles von dem, was im Kirchenmanifest steht, ist für uns als Kirchenleute nicht komplett neu; wir arbeiten seit mehreren Jahrzehnten an diesen Themen.

Olaf Zimmermann: Die Kirchen waren natürlich eingebunden. Letztendlich handelt es sich um eine Aktivität der Kirche, weil die Kirche der Ort der Gläubigen ist und nicht die Kirche einiger hauptamtlicher Pfarrer oder Bischöfe. Man könnte höchstens sagen, dass die Amtskirche oder die kirchlichen Bauämter nicht genug eingebunden waren. Das ist aber vielleicht auch gut, weil man ja auch mal eine neue Idee haben muss. Eigentlich müssen die Kirchen begeistert sein, gerade die Amtskirchen. Die ganze Zeit wird sich darüber beschwert, dass immer weniger Menschen Interesse an der Kirche haben. Jetzt haben Menschen ganz offensichtlich Interesse, und dann jammert die Amtskirche.

Claussen: Ich jammere gar nicht, ich gehe ja mit den Menschen, die sich hier engagieren, in die inhaltliche Auseinandersetzung. Wir als Kulturbüro der EKD haben ein großes Interesse daran, den Diskurs weiterzuführen.

 

Es gibt also die Amtskirchen und die Gemeinschaft der Gläubigen. Wer hat denn die Entscheidungsmacht in solchen Fragen?

Zimmermann: Wir reden hier über eine Idee, die eine fundamentale Veränderung bedeutet von dem, was wir bisher haben: eine breite Umnutzung von nicht mehr genutzten Kirchen für kulturelle Zwecke. Da ist es natürlich notwendig, dass diejenigen, denen ganz formal diese Kirchen zugeordnet sind, darüber entscheiden, ob sie sich diese Umnutzung vorstellen können. Wir reden auch über einen heftigen finanziellen Betrag, der dafür gebraucht wird. Und es muss auch in der Zivilgesellschaft ein Interesse daran geben, diese Kirchenräume zu nutzen. Das Spannende ist ja, dass diese Gebäude weiterhin bespielt werden sollen, und zwar mit Kultur.

Claussen: Fast alle Kirchengebäude gehören den jeweiligen Kirchengemeinden. Die sind nicht selten überfordert mit dem Erhalt und Betrieb. Sie können hier auch nicht ganz allein entscheiden; es gibt Beratungszusammenhänge durch Kirchenkreise, durch Landeskirchen. Die EKD als Dachverband engagiert sich auch, um neue Wege zu finden. Ich denke, dass es keine einheitliche Lösung für ganz Deutschland geben wird. Man muss immer Lösungen vor Ort finden. Ich erlebe bei vielen kirchlichen Akteuren eine große Lust und ein großes Interesse, Dinge auszuprobieren, auch mit dem Risiko zu scheitern, um Kirchengebäude zu erhalten. Man sollte dabei nicht einfach die säkulare Kultur gegen die religiöse Nutzung setzen, es gibt da ganz interessante Überblendungen, Verbindungen, Parallelen. Wenn es eine andere Nutzung gibt als die rein gottesdienstliche, kann diese kulturell sein. Wir haben aber auch ein hohes Interesse an sozialer, diakonischer Nutzung. Es muss nicht immer Kultur sein.

Zimmermann: Ich glaube auch, dass es keine einheitliche Lösung für alle Kirchen geben kann. Es ist gut, dass ganz viele Menschen sagen: Wir wollen unsere Kirche im Dorf, in der Stadt behalten. Deswegen muss man über verschiedene Modelle nachdenken.

Es wird Unterschiede geben zwischen der evangelischen Kirche, in der es andere Trägermodelle gibt, und der katholischen Kirche, wo hierarchischer über diese Fragen entschieden wird. Das Neue an diesem Kirchenmanifest ist, dass es eine breite Bewegung gibt, die sagt: Es ist uns nicht egal, was mit diesen Kirchenräumen passiert. Das kann man nur gut finden.

Es gibt Ängste, gerade bei den Amtskirchen, die sagen: Wir sind doch die Hausherren dieser Kirche. Und es gibt zumindest in den Kirchenspitzen offensichtlich die Sorge, dass der Staat die Möglichkeit der Finanzierung dieser leerfallenden Kirchen dazu nutzen könnte, dies als Ablösung der Staatsleistungen zu betrachten, die in der Verfassung festgelegt ist. Damit hätten sich, so die Sorge, die Staatsleistungen dann erledigt. Ich glaube allerdings, dass diejenigen, die dieses Kirchenmanifest geschrieben haben, sich darüber überhaupt keine Gedanken gemacht haben. Auch ich kann hier keine unmittelbare Gefahr erkennen.

Claussen: Wir haben es in der Evangelischen Kirche übrigens schon ganz gut eingeübt, dass wir, selbst wenn wir Besitzerin einer Kirche sind, nicht die alleinige Verfügungsmacht darüber haben. Ein Beispiel sind die vielen Dorfkirchenvereine in Ostdeutschland. Viele Vereine haben Kirchen gerettet, instandgesetzt und verantworten auch den Betrieb. Das ist ein Stück Abgabe von Macht, zu der wir gerne bereit sind.

Zimmermann: Ob die Kirchengemeinden wirklich immer gerne Macht abgeben, stelle ich mal in Frage.

Claussen: In diesen Vereinen wird Verantwortung geteilt. Macht kann man nur dann haben, wenn man auch die Verfügungsgewalt hat, etwas umzusetzen. Wenn man aber ein starkes Gefühl von Überforderung hat, dann ist Macht abgeben, gar nicht so schlimm.

 

Muss man denn wirklich alle Kirchenbauten erhalten?

Claussen: Das ist eine Frage, die sich die Autorinnen und Autoren des Kirchenmanifests, glaube ich, nicht in aller Schärfe gestellt haben, weil sie so stark vom Denkmalschutz kommen. Es wird und muss sehr wohl auch notwendige Abschiede geben. Ich denke an eine ganze Reihe von Nachkriegsbauten, die allein aufgrund ihrer Bausubstanz und ihrer Betonproblematik ihre Lebenszeit überschritten haben und nicht zu retten sind. Es klänge komisch, wenn ich als Kirchenvertreter sagen würde: Reißt Kirchen ab. Aber diese Frage nach Kriterien für Kirchen, die man nicht rettet oder retten kann, diese harte Frage muss man stellen. Das ist eine argumentative Lücke im Kirchenmanifest.

Zimmermann: Ich denke auch, dass es keine automatische Garantie für alle Gebäude geben kann. Ich glaube auch nicht, dass alle Gebäude die gleiche Bedeutung für eine Gemeinde oder für eine Stadt haben. Ich kann auch ein in den 1970er Jahren gebautes Betongebäude retten. Das kostet halt nur wahnsinnig viel Geld. Wir sprechen in der Regel aber doch über Kirchen, die älter sind, die also genau diese Identität ausmachen. Der Denkmalschutz ist eine positive Krücke. Es ist für die Amtskirche und für die Kirchengemeinden nicht einfach, eine Kirche abzureißen. Nicht nur, weil es dagegen einen Aufstand der Stadtgesellschaft gibt, sondern weil auch rechtliche Rahmen beachtet werden müssen. Und das ist auch gut so.

 

Reden wir nicht zu wenig über die Gläubigen?

Zimmermann: Wenn es genügend Gläubige gibt, gibt es auch genügend Kirchgänger, dann gibt es auch kein Problem für das Gebäude. Wir reden nur deshalb über diese Maßnahmen, weil es eindeutig nicht genug Gläubige gibt und es in der Zukunft voraussichtlich immer weniger Gläubige geben wird.

Claussen: Da würde ich nochmal unterscheiden. Gläubige und Kirchenmitglieder sind nicht immer identisch. Es gibt Gläubige, die keine Kirchenmitglieder sind, dennoch ein hohes Interesse an Kirchgebäuden haben. Bisher wurden die durch die Solidargemeinschaft der Kirchensteuerzahler getragen.

Zimmermann: Und jetzt soll der Staat mithelfen.

Claussen: Genau. Das tut er ja auch schon. Wir empfangen schon jetzt viel Unterstützung. Aber es muss mehr werden, sonst können die wertvollen Kirchen nicht erhalten werden. Wie uneindeutig die Lage ist, zeigt folgender Aspekt: Es gibt Kirchengemeinden, die sagen: Wir möchten gerne den schönen alten identitätsstiftenden Sakralbau abgeben und das weniger ansehnliche Gemeindezentrum behalten, weil wir da gute Gemeindearbeit leisten können.

Zimmermann: Das ist doch genau die Chance, dass eine Gemeinde sagt: Wir wollen dieses Gemeindezentrum, und wir wollen trotzdem unseren Weihnachtsgottesdienst und unseren Ostergottesdienst in der Kirche feiern. Jede Form von Fundamentalismus verbietet sich da, dass z. B. überhaupt keine religiösen Themen mehr in der »umgewandelten« Kirche stattfinden.

Die Gebäude an sich sind auch Ankerpunkte für die Menschen, die nicht oder nicht mehr Mitglied der Kirche sind. Wenn man in dieses Gebäude wieder hineingeht, weil man dort vielleicht über ein Umweltthema diskutiert, ist das ein neuer Zugang. Deswegen glaube ich, dass dieses Kirchenmanifest eine unglaubliche Chance auch über die Gebäudefrage hinaus ist. Das geht bis zu der Frage: Ist meine Entscheidung, die ich vielleicht aus ökonomischen Gründen getroffen habe, die Kirche zu verlassen, die beste gewesen?

Claussen: Die Stärke des Kirchenmanifests besteht darin, dass es diese unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Kirchgebäuden deutlich macht. Das ist kein Widerspruch zum Theologischen. Denn den Glauben gibt es nicht an und für sich, sondern immer verbunden im sozialen Geschehen, in kultureller Gestaltung. Es ist wichtig, dass das zusammen gedacht wird.

 

Wie geht es denn jetzt weiter? Wie setzt man das um, was im Kirchenmanifest gefordert wird? 

Zimmermann: Es ist wichtig, dass die Kirchenleitungen die Offenheit haben, mit den Leuten, die dieses Manifest geschrieben haben, und mit weiteren, die es unterschrieben haben, zu sprechen. Bisher ist die Initiative von außerhalb der Amtskirche gekommen. Jetzt ist mal die Amtskirche dran, etwas zu tun.

Claussen: Das Eine ist die Fachdiskussion derer, die Verantwortung tragen. Da wird es vor allen Dingen um die Frage gehen, ob und wie es uns gelingt, die Politik an den Tisch zu kriegen. Es geht auch um erhebliche Kosten. Das Zweite ist, dass wir gemeinsam an die Öffentlichkeit gehen und ein Bewusstsein dafür erzeugen, dass das ein wichtiges Zukunftsthema ist.

Zimmermann: Ich glaube, dass man die Politik schon allein deshalb an den Tisch bekommen wird, weil wir fundamentale Veränderungen in den Innenstädten erleben. Viel sichtbarere Probleme als bei den Kirchgebäuden gibt es, weil die großen Kaufhäuser geschlossen werden, weil die Verantwortlichen nicht wissen, wie sie ihre Innenstadt attraktiv halten können. Der Staat muss mit an den Tisch. Wichtig ist aber auch, dass es nicht so etwas wie eine Staatsstiftung gibt, die als Bundesstiftung alle Kirchen, die in diese Umwandlung hineingehören, aufnimmt. Da muss es unterschiedliche Wege, besonders zivilgesellschaftliche Wege, geben. Es wird aber natürlich öffentliche Etats und Förderprogramme geben müssen. Die wird es aber sowieso geben müssen. Der Umbau der Innenstädte wird uns Hunderte von Milliarden kosten, wenn wir nicht wollen, dass niemand mehr da durchlaufen will und sie verkommen.

Claussen: Noch ein Aspekt, um dem apokalyptischen Jammern etwas entgegenzusetzen: Wir sollten bei allen Transformationen, die uns bevorstehen, nicht vergessen, dass wir in Deutschland eine kirchenbauliche Infrastruktur wie nirgendwo sonst auf der ganzen weiten Welt haben. Wir haben hier ein wunderbares Erbe. Damit müssen wir jetzt arbeiten.

Zimmermann: Genau dasselbe erleben wir auch bei den klassischen Kulturorten. Wir kämpfen um den Erhalt der kulturellen Infrastruktur, auch, wenn ein Opernhaus oder ein Theater saniert werden muss. Da sagen wir auch nicht: Reißt es jetzt einfach ab, ist billiger. Genauso müssen wir auch die Kirchengebäude schützen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2024.