Wie schmutzig war das Mittelalter? Wenn man populären Darstellungen, Büchern und Filmen folgt, lag der Dreck knietief in den Gassen. Wehe, falls gerade ein Nachttopf aus dem Fenster gekippt wird … Aber stimmt das wirklich? Wenn im Zusammenhang mit Hygiene vom »Mittelalter« gesprochen wird, so ist das Spätmittelalter gemeint – und ein städtisches Milieu. Die eigentlichen Ballungsräume entstanden jedoch erst mit der Industrialisierung. Um 1500 war das mittelalterliche Köln mit seinen rund 40.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt im heutigen Deutschland – nach unserem Empfinden eine Kleinstadt. Stadtsiedlungen mit mehr als 10.000 Bewohnern ließen sich in Mitteleuropa an einer Hand abzählen. Zwar zeigte sich im Spätmittelalter eine endemische Verbreitung von Typhus, und auch Darmparasiten waren nicht selten. Doch die großen hygienischen Krankheiten wie die Rote Ruhr, die Cholera oder die Tuberkulose traten erst im 18. und 19. Jahrhundert als eigentliche Volksseuchen in Erscheinung. Wie sauber oder wie schmutzig eine spätmittelalterliche Stadt war, muss im Einzelfall beurteilt werden. Der Grund für die belangvollen Unterschiede liegt in der wirtschaftlichen Beziehung einer städtischen Siedlung zu ihrem Umland. Wenn im Einzugsgebiet einer Großsiedlung eine intensive Landwirtschaft mit Ackerbau sowie hochspezialisierter Wein- und Obstbau betrieben wurde, so war die Beseitigung von Exkrementenzumindest kostentragend oder gewinnbringend. Fäkalien wurden wieder als Nährstoffe den Kulturen zugeführt, anorganische Abfälle wie z. B. Keramikscherben dienten im Landbau als Bodenverbesserer. Das Einsammeln von Dünger und der Düngertransport galt als ein vom Verdienst lohnendes Gewerbe, das oftmals den »Unberührbaren« als Monopol vorbehalten war. Diese an die Erledigung von schmutzigen Arbeiten gewohnten Menschen lebten oft in gesonderten Randgruppenquartieren wie etwa dem Kohlenberg in Basel oder dem Kratzquartier in Zürich. Bekannt sind auch die Pappenheimer aus Nürnberg oder die Goldgrübler aus München.

Für die Lagerung menschlicher Fäkalien gab es gemauerte oder mit Holzeinfassungen ausgestattete Gruben, die mit einem Gemisch aus Strohhäcksel oder Lehm abgedichtet wurden. Waren die Grubenschächte tief, eng und mit einem luftdichten Deckel versehen, so erwiesen sie sich oft als Endlagerstätten. Unter Luftabschluss vergoren die organischen Abfälle und Fäkalien und ihre Masse schwand. Solche Grubenschächte wurden über 30 Jahre lang benutzt. Einmal gefüllt, war es kostengünstiger, neben der vollen Grube eine neue auszuheben, statt die alte zu leeren. Eine Räumung lohnte sich nicht, wenn rund um die Stadt eine lediglich extensive Landwirtschaft betrieben wurde – wie oft im nördlichen Deutschland. War der Stoffkreislauf zwischen Stadt und Umland geschlossen wie in Süddeutschland oder der Schweiz, zeigt sich dies an der Typologie der Fäkaliengruben. Der Durchmesser der Gruben war größer, die Tiefe geringer, und die Luftzufuhr wurde nicht unterbunden, was die Leerung in kurzen Zeitabständen erleichterte. Außer Gruben trifft man in Spätmittelalter sogenannte Reihen, Ehgraben oder »Wuostgräben«, das sind offene Kloaken zwischen den Häuserzeilen. Auch diese ungedeckten Gräben wurden periodisch geleert und gereinigt. Einige Städte wie Freiburg im Breisgau oder Bern leiteten natürliche Bachläufe um und führten sie in kleinen Kanälen oder Runsen durch die Gassen, um die Bewohner und Gewerbebetriebe mit Wirtschaftswasser zu versorgen. Mit dem Abfluss dieser offenen Wasserversorgungen ließen sich die Ehgraben regelmäßig spülen. Mit Absetzbecken am Ende des Kanals wurde der Dünger zurückgewonnen. Nur leicht verschmutzte Abwässer aus Stadtbächen – etwa mit dem Zusammenwisch von Wohnräumen, Gassen und Hofplätzen angereichert – wurden auch für die Bewässerung, Düngung und Bodenerneuerung von Feuchtwiesen unterhalb des Stadtgebiets genutzt.

Hätte man im Spätmittelalter wie in der Antike Wasser für die Intimpflege benutzt, so wäre die Verschmutzung des öffentlichen Raums und der Gewässer größer gewesen. Das Toilettenpapier des Mittelalters bestand aus Stroh, Heu oder am angenehmsten aus getrocknetem Moos. So vermischten sich menschliche Ausscheidungen mit Einstreu – es entstand Mist. Die Gerüche wurden gebunden. Fäkaliengruben und Ehgraben ließen sich mit der Stechschaufel oder der Mistgabel ausräumen. Solch menschlicher Mist unterschied sich nicht vom tierischen. Dies vereinfachte nicht nur die Reinhaltung der Siedlung, sondern vor allem in See- und Flussstädten ließ sich der Dünger über weite Strecken transportieren.

Der Ruf des »schmutzigen« Mittelalters ist eine Spielart des »finsteren«, ein Zerrbild, das sich vor allem in der humanistisch gebildeten Gelehrtenwelt des 16. und 17. Jahrhunderts verbreitet hatte. Nach der Wiederentdeckung der Antike schien die eben verflossene Zeit als besonders gestrig. Gerade aber auf dem Gebiet der Hygiene zeigt sich das pure Gegenteil: Die antike Hygienelehre lebte vor allem in den Klöstern weiter. Davon zeugen sowohl der um 820 entstandene St. Galler Klosterplan und der Wasserversorgungsplan der Abtei Canterbury aus dem 12. Jahrhundert. Der in Marmor gehauene Toilettensitz mit dem typischen Schlüssellochprofil der römischen Gemeinschaftslatrine findet noch im Spätmittelalter seine Entsprechung in Holz. Besonders ausgeprägt war die Kontinuität im Mittelmeerraum, wofür die Cloaca Maxima in Rom als eindrückliches Beispiel zeugt. In Rechtsquellen wie den Konstitutionen von Melfi, die Kaiser Friedrich II.1231 für das Königreich Sizilien erließ, spiegelt sich die antike Lehrmeinung. Und nicht zuletzt verfügten spätmittelalterliche Städte über öffentliche Bäder. Erst in der frühen Neuzeit verschwand der Badekult aus der Stadt und lebte allenfalls auf dem Land als Kur- und Heilbad weiter. Wirklich verabschiedet hat sich die Hygiene aus den Städten im 16. und 17. Jahrhundert  – just in der Epoche, die dem Mittelalter Schmutz und Rückständigkeit vorwirft. Seltsam berühren die gigantischen Paläste der französischen Könige in Versailles und Fontainebleau bei Paris, die ohne jegliche hygienischen Einrichtungen erstellt wurden. Die Schwägerin des Sonnenkönigs, Liselotte von der Pfalz (1652–1722), berichtet in mehreren Briefen an ihre Verwandten in Deutschland von den unsäglichen Zuständen am Hof. Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Aufklärung findet ein Diskurs über die öffentliche Hygiene statt, der sich in der hygienischen Revolution des 19. Jahrhunderts fortsetzt. Die wechselnden Konjunkturen in der Geschichte der Gesundheitspflege führen im Rückblick oft zu Verzerrungen. Unser Nasenrümpfen über vergangene Epochen kann nicht das Maß aller Dinge zu sein. Auskippen von wenig verschmutztem Spülwasser auf die zumindest mit Ablaufrinnen versehenen Gassen war im Spätmittelalter Bürgerpflicht. Auch aus heutiger Perspektive ist das weit sinnvoller, als mit dem Ausgießen von nur leicht verschmutztem Abwasser die Hinterhöfe zu durchnässen oder die Nährstoffe aus dem Mist der Ehgraben auszuschwemmen. Die offene Mistlagerstätte, die ungedeckten Abwasserläufe oder die mit Fäkalien verklebte Haus- oder Stadtmauer wurden in Kauf genommen und erregten wenig Anstoß. Hingegen zeigen die Ratsquellen, dass die Obrigkeiten sich nicht scheuten, stadtbekannte Schmutzfinken exemplarisch abzustrafen. Auf den Sündenlisten findet sich z. B. ein Arzt, der das gebrauchte Verbandszeug auf die Straße wirft. Des Weiteren wurde das Ausschütten von Nachttöpfen auf die Gasse verboten, wenn sie Exkremente enthielten oder mit Aufkommen der Straßenpflästerung zunehmend der Freilauf der Schweine. Ein Thema sind daneben gewerbliche Gewässerverschmutzungen. Selbst das Spätmittelalter war nicht von Umweltgiften wie Arsenik gefeit war, das bei der Ledergerberei entstand. Gemessen an der heute zum größten Teil irreversiblen Umweltverschmutzung steht das angeblich so schmutzige Mittelalter sauber da.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.