Wasser ist nicht gleich Wasser.« Bei dieser Aussage denkt man wohl in erster Linie an den unterschiedlichen Salzgehalt: Donauwasser, Atlantikwasser, Wasser einer mineralhaltigen heißen Quelle. Weniger bekannt, und auch nicht so einfach formulierbar, ist das Phänomen, dass sich Wasser als Umweltmedium für kleine Lebewesen geradezu dramatisch anders darstellt als für große. Die Dimensionen reichen vom einem Mikrometer großen Bakterium bis zum 30 Meter langen Blauwal, ein Längenverhältnis also von 30 Millionen zu eins.

Umströmt das Wasser einen großen Fisch nicht viel anders als einen schwimmenden Menschen, so erscheint es einem kleinen Wasserfloh oder gar einem winzigen Flagellaten zäh wie Honig. Hören wir mit den Schwimmbewegungen auf, gleiten wir noch ein ganzes Stück aus, bis wir vollständig zur Ruhe kommen. Bei einem Wal gar wären das Dutzende von Metern. Der kleine Flagellat würde aber praktisch schlagartig stehen bleiben, so als würde er an eine unsichtbare Wand anstoßen. Man kann sich vorstellen, dass der Flagellat zum Schwimmen in seinem honigzäh erscheinenden Medium relativ viel mehr Energie braucht als ein Wal in seinem ihm glitschig erscheinenden Medium. Die muss er sich aber erst einmal durch Nahrungsaufnahme beschaffen. So spielt die Strömungsphysik tief hinein in scheinbar urbiologische Vorgänge.

Dass Physik für Lebensvorgänge genau so gilt wie für unbelebte, zeigt auch ein anderes Beispiel. Ein großer Fisch gewinnt vielleicht genügend Energie, wenn er drei kleine frisst. Bei den größten Fischen – und Walen – würde es aber auch dann nicht reichen, wenn sie den ganzen Tag einen Fisch nach dem anderen fräßen. Ab einer gewissen Größe muss die Natur dann für die Nahrungsaufnahme auf ein anderes System umschalten, das passive Aussieben von ganzen Kleintierschwärmen, beispielsweise Garnelen.

Warum sinken kleine Lebewesen des Planktons so langsam ab?

Bei kleinen bis sehr kleinen Pflanzen und Tieren in einem Wasserkörper, die über keine oder nur über eine so geringe Eigenbewegung verfügen, dass sie mit Strömungen passiv verfrachtet werden, spricht man von Plankton. Nicht umsonst ist Plankton bei Hobby-Mikroskopikern sehr beliebt, weil es darunter zauberhaft schöne Formen gibt. Das gilt insbesondere für viele kleine pflanzliche Plankter wie Kiesel- und Schmuckalgen. Da sie allesamt ein etwas größeres spezifisches Gewicht haben als das umgebende Wasser, sinken sie langsam ab. Das ist aber gefährlich für sie. Das für ihre Fotosynthese und damit zum Aufbau von Körpersubstanz nötige Sonnenlicht können sie nur in den obersten Wasserschichten nutzen. Schon in ein paar Meter Tiefe ist das Licht so schwach – und auch zum Bläulichen hin farbverschoben –, dass es fotosynthetisch nicht mehr ausreicht. Solche Plankter werden also gut beraten sein, wenn sie Verfahren entwickeln, welche die Sinkgeschwindigkeit verringern. Das Wichtigste dieser Verfahren ist, wieder aus strömungsmechanischen Gründen, ihre Kleinheit. Dazu kommen Stacheln, Dornen und andere Fortsätze, wie bei Wasserflöhen oder Rädertieren, sowie ketten- oder netzförmige Anordnung von Einzelzellen z. B. Kiesel- und Zieralgen. Sie alle bringen die Fähigkeit mit, einen hohen Widerstand zu erzeugen. Technisch gesprochen ist ihr Widerstandsbeiwert cW – ein Begriff, den man aus der Automobilwerbung kennt – sehr groß. Wenn sie größeren Widerstand erzeugen, sinken solche Plankter also langsamer ab. Damit können sie längere Zeit in sonnendurchfluteten oberflächennahen Wasserschichten eines Sees verbleiben und haben damit auch längere Zeit die Möglichkeit zu fotosynthetisieren. Sie bauen dann mehr Körpersubstanz auf und können sich weiter fortpflanzen und vermehren, bevor sie ins kalte, lichtarme Tiefenwasser geraten und absterben. D. h. ihre Produktivität ist größer; sie bauen pro Zeiteinheit mehr Biomasse auf, mit all den Konsequenzen für ihre Fressfeinde und für die Gesamtökologie des Wasserkörpers.

Längere »Bremsfortsätze« entwickeln auch tierische Plankter im Sommer bei höheren Wassertemperaturen. Mit diesen ändern sich die Zähigkeitsverhältnisse im Wasserkörper, sodass die Plankter besonders rasch absinken würden, aber gerade um diese Zeit entwickeln sie ja Mechanismen dagegen. Da passt es gut, dass stacheliges Plankton von Beutegreifern – Jungfelchen schnappen im Sommer sogar einzelne Wasserflöhe – nicht so leicht gefressen werden können: eine morphologische Eigentümlichkeit, zwei ganz unterschiedliche Funktionen. Das Prinzip der Mehrfachnutzung in der Biologie.

Wie halten kleine sessile Lebewesen eines Wasserkörpers starke Überströmung aus?

Bei auf einer Oberfläche festsitzenden, meist sehr kleinen Pflanzen und Tieren eines Wasserkörpers spricht man von sessilen Lebewesen. Sie können einzeln ansitzen oder insgesamt einen dichten Bewuchs bilden. Auch von starken Strömungen werden sie nicht weggerissen und abgespült. Am auffallendsten ist dies bei Wasserfällen, in denen ja in der freien Außenströmung Geschwindigkeiten gegenüber dem Untergrund von sechs Metern pro Sekunde erreicht werden können. Das liegt daran, dass sie sich wegen ihrer Kleinheit in Regionen der Grenzschicht verbergen können, in denen eine geringe Geschwindigkeit herrscht, unbeschadet einer mächtig darüber hinwegrauschenden Außenströmung. Wieder helfen die Strömungsmechaniker zu einem tieferen Verständnis des biologischen So-Seins. Die der Oberfläche des umströmten Objekts nächstgelegene molekulare Schicht des Wassers haftet an dieser Oberfläche (Haftbedingung der Hydromechanik; dort ist die Geschwindigkeit gleich null). Weiter nach außen, also mit größerem Wandabstand, nimmt die Geschwindigkeit zu, bis sie schließlich die Geschwindigkeit der Außenströmung erreicht hat. Das ist bei einem handgroßen Stein am Grund eines Bachs etwa bei einem Wandabstand von einem Millimeter der Fall. Kleinere festsitzende Organismen befinden sich somit zwangsläufig in Bereichen kleinerer Geschwindigkeiten, in denen die Strömung nicht so stark an ihnen zerrt. So kommen sie weniger in die Gefahr, weggerissen zu werden. Die meisten erfahren nur höchstens ein Drittel der Geschwindigkeit der freien Außenströmung, eine Anzahl besonders kleiner nur höchstens ein Zehntel, und die allerkleinsten wie Protozoen, insbesondere beschalte Amöben, kriechen sogar frei herum; von der darüber hinwegtosenden freien Strömung merken sie gar nichts. Auch hier ist also die ausschlaggebende Größe die Kleinheit. Dazu kommen meist feste, wurzelartige Verankerungen und bei Algen die Fähigkeit, rasch nachzuwachsen, wenn die oberen Teile abgerissen werden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2023.