Über das Streiten wird ausgiebig gestritten. Streit kann als konstruktiv oder destruktiv verstanden werden. Streit kann als mediale Inszenierung hohen Unterhaltungswert entfalten. Über die Regeln, wie zu streiten ist, aber herrscht keine Einigkeit: Sie unterscheiden sich je nach politischen, gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Bereichen. Es gibt keine zeitlich und rechtlich übergeordneten, verbindlichen Streitregeln. Über die Art und Weise, wie gestritten wurde, was als akzeptabel empfunden wurde und was nicht, ist stets im jeweiligen Zeitkontext debattiert worden. Das führt zu der Frage, wie viel Geschichte in unserer digitalen und beschleunigten Streitkultur steckt? Diese Frage war der Ausgangspunkt für die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen in Halle (Saale). Ziel ist es, zu zeigen, dass die erhitzte und als verroht empfundene Streitwelt in den sozialen Medien unserer Tage eine lange Vorgeschichte hat. Dabei besitzen vor allem Grenzüberschreitungen des Akzeptierten das Potenzial, das Streiten über das Streiten zu befeuern. Die Ausstellung hat zum Ziel, das Thema Streit an unsere Gegenwart heranzuführen, ihm eine historische Tiefenstruktur zu verleihen.

Menschen, Medien, Mechanismen

Dabei wird keine Einteilung in eine legitime »gute« Streitkultur und eine illegitime »schlechte« Streitunkultur vorgenommen. Vielmehr ist es das Anliegen der Ausstellung, soziale, mediale, sprachlich-rhetorische und körperliche Mechanismen sowie Folgewirkungen aufzuzeigen. Als Grundlage dafür dient das Konzept der Invektivität. Damit wird der Blick auf Phänomene der Auseinandersetzung, Herabsetzung, Schmähung, Bloßstellung etc. gerichtet und deren soziale und kommunikative Rolle bei der (Selbst-)Verständigung von Gemeinschaften und Gesellschaften analysiert. Zentral ist dabei der Blick auf die Anschlusskommunikation, darauf also, was eine konkrete Streitsituation an Folgewirkungen und Dynamiken auslöst. Es gilt darum, nicht nur auf den Moment der Eskalation zu schauen, sondern darauf, welche Wirkungen dieser auslöst. Viele Streitfelder, gestern und heute, sind durch Beleidigungen und Hasskommentare, durch Invektivität charakterisiert. Die Ausstellung soll zum Nachdenken und Diskutieren über das Streiten selbst sowie über Unterschiede und Verbindungslinien zwischen dem 18. Jahrhundert und heute anregen. Sie verfolgt das Ziel, durch den Blick zurück in die Geschichte jenen auf das Heute zu schärfen. Dafür folgt sie konzeptionell einem Dreischritt und nimmt die Medien des Streits, die Mechanismen des Streitens und die streitenden Menschen, ganz konkrete Geschichten also, in den Blick.

Streitarenen

Die Ausstellung ist entlang von Streitarenen kuratiert. Streitarenen sind geprägt durch historische oder gegenwärtige mediale, institutionelle, kulturelle und soziale Bedingungen und in ihnen wirksame Rollenbilder. Eine raumbezogene Perspektive ermöglicht das Aufzeigen von ritualisierten Formen von Streithandlungen, z. B. in Duell und Talkshow, und von Gesten und Posen wie Fingerzeichen, Körperhaltungen und Kleidungsstile. Auf diese Weise werden Streitstile von Menschen in Vergangenheit und Gegenwart deutlich. Streitarenen besitzen eine hohe assoziative Kraft: Marktplatz, Universität, Königshof für das 18. Jahrhundert – Screens, »Sound Stage« und Fußballstadion für das 20. Jahrhundert und die Gegenwart. Es hätten auch weitere mehr sein können wie die Straße, die Kneipe, das Gericht, das Wohnzimmer etc. Das Konzept der Streitarenen wurde für die Ausstellung wörtlich genommen und gestalterisch umgesetzt – die einzelnen Räume der Ausstellungsetage im Historischen Waisenhaus in Halle sind so inszeniert, dass die Besuchenden diese Arenen gleichsam betreten und das jeweilige Streitgeschehen inmitten der Arena verfolgen können.

Die erste Streitarena befasst sich mit dem »Marktplatz«, einem der zentralen städtischen Orte der Frühen Neuzeit für Kommunikation, Streitgeschehen und Strafpraxis – von Flugschriften bis zu Schandmänteln. Die Streitarena »Universität« widmet sich dem Konflikt um Christian Wolff und seinen Kontrahenten an der Theologischen Fakultät in Halle, der zu einem Medienereignis avancierte. Die Höfe stellten einen weiteren zentralen Raum der Lebenswelt des 18. Jahrhunderts dar und bilden die dritte frühneuzeitliche Streitarena: Waren sie Orte einer aufgeklärten Streitkultur oder vielmehr Arenen machtpolitischen Intrigierens? Hier begegnen sich Friedrich II. und Voltaire. Dem 18. Jahrhundert werden drei zeitgeschichtliche Streitarenen gegenübergestellt. Diese beginnen mit den »Screens«: Durch unterschiedliche Bildschirmformate – Widescreen, TV, Smartphone – werden Beispiele aus Kinofilmen, Talkshows und sozialen Medien in den Blick genommen, vom Slapstick der 1920er Jahre bis zu Videos auf TikTok. Die »Sound Stage« widmet sich akustischen Streitkulturen. In ihr wird ein Bogen von Neuer Musik, Rock und Musikkritik bis zu auditiven sozialen und politischen Konflikten – wie dem »Lautsprecherkrieg« zwischen BRD und DDR 1961-1965 – geschlagen. Beide Arenen werden durch die Aufführung des Videos »Gift« des hallischen Rappers Fakkt multimedial miteinander verbunden. Mit dem Fußballstadion als Ort kontroverser Fußball- und Fankultur kommt ein Raum des Streitens in den Blick, der hierfür berühmt und berüchtigt sowie in den Medien überaus präsent ist. Dabei werden nicht nur provokative Fanchoreografien und Banner gezeigt, sondern auch das Geschehen, das über das Stadion hinausgeht.

Der »Vogel Selbsterkenntnis«

In der Ausstellung verbindet die beiden Flügel mit den Streitarenen ein zentraler Raum. Als Streitsymbole inszenierte Duellpistolen aus dem 18. Jahrhundert und moderne Smartphones führen in eine Arena, die einem TV-Studio mit Zuschauenden und Sprechenden nachempfunden ist. Hier ist ein Streit-Karaoke inszeniert, bei dem die Besuchenden selbst ganz unmittelbar in Streitgespräche eintauchen können. Auf einer Projektionsfläche laufen fünf Streitszenarien im Originaltext, aber ohne bewegte Bilder ab: aus einem »Polizeiruf 110« von 1971 (»Affentheater«), aus einem Fernsehduell zwischen Alice Schwarzer und Esther Vilar von 1975 (»Der dressierte Mann«), aus der »Bonner Runde« von 1985 (Willy Brandt vs. Helmut Kohl), aus der Fußball-Talkshow »Doppelpass« von 2002 (Udo Lattek vs. Uli Hoeneß) und aus »Germany’s Next Topmodel« von 2017 (»Angezickt«). Das interaktive Karaoke zielt darauf, sich auf (zeithistorische) Streitsituationen einzulassen, sie auf gedankliche wie sinnliche Weise zu erfahren und sie auch neu und eigensinnig zu interpretieren. Das Streit-Karaoke soll also sowohl unterhalten als auch anregend wirken, das eigene Streitverhalten zu befragen.

Dies wird beim Eintritt in die Ausstellung durch ein auf den ersten Blick irritierendes Exponat versinnbildlicht: eine Holzskulptur aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, die die Besuchenden unmittelbar mit der Auseinandersetzung mit sich selbst konfrontiert. Die Figur, die ursprünglich als Verzierung an einem Schlitten angebracht war, geht auf ein Bildmotiv zurück, das im 17. und 18. Jahrhundert europaweite Verbreitung fand: den »Vogel Selbsterkenntnis«, eine Mensch-Vogel-Metamorphose. Aus einem menschlichen Haupt, das von gefiederten Flügeln umschlungen ist, wachsen der Hals und Kopf eines Vogels – und dessen Schnabel wiederum zwickt die Person in die Nase. Der »Vogel Selbsterkenntnis« führt einen der wichtigsten Aspekte beim Streit über das Streiten vor Augen: das Sich-an-die-eigene-Nase-Fassen, die kritische Selbstreflexion. Denn für uns alle stellt sich die Frage, wie wir zu streiten bereit sind. Hier wird die historische Tiefenstruktur durch ein konkretes Objekt direkt fassbar: Unsere heutige Zeit verbindet mit dem 18. Jahrhundert, dass die Grenzen des Sagbaren stets im Miteinander zu bestimmen sind und die Fähigkeit zur Selbstkritik dabei unerlässlich ist. Wir selbst sind dafür verantwortlich, wie wir miteinander streiten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.