Was tun gegen Hassrede im Netz? Ludwig Greven spricht mit dem Kriminalpsychologen Jan-Gerrit Keil über den Einsatz der Polizei gegen Diskriminierungen in den sozialen Medien, über das Präventionsprojekt »Zivile Helden« und die Aufgabe der Kultur- und Bildungseinrichtungen im Kampf gegen Rassismus.

Ludwig Greven: Was kennzeichnet Rassismus in den sozialen Medien?

Jan-Gerrit Keil: In erster Linie handelt es sich um Hasskriminalität bzw. die im englischsprachigen Raum als »Hate Crime« klassifizierten Delikte: Kommentare oder Posts – das können auch Filme, Bilder, Memes oder Lieder sein –, die rassistische Äußerungen oder Darstellungen enthalten. Vielfach ergeben sich dabei inhaltliche Überschneidungen mit der rechtsextremistischen Szene oder dem politischen Rechtspopulismus. Es finden sich aber auch rassistische oder antisemitische Kommentare, die nicht eindeutig einer politisch extremistischen Richtung oder einer fundamentalistischen Religionsauslegung zuzuordnen sind. Die Aussagen spiegeln dann entweder alltagsrassistische Ressentiments wider oder haben ihren Ursprung vordergründig mehr in frauenfeindlichen, verschwörungstheoretischen oder esoterischen Milieus. Diese Milieus sind wiederum häufig mit Versatzstücken rechtsextremistischer Ideologie verwoben.

Schwieriger wird es aus polizeilicher Sicht sicherlich, wenn Beiträge nicht so eindeutig sind.

Natürlich gibt es im Netz auch sublimere Formen von strukturellem Rassismus. So werden in der Werbung und durch Influencerinnen bestimmte Schönheitsideale protegiert. Schwarzen Menschen werden Bleichcremes zur vermeintlichen Verbesserung der Jobchancen angeboten. Algorithmen reproduzieren bestehende Machtverhältnisse und bieten Schwarzen Menschen systematisch Anzeigen für Jobs im Dienstleistungsgewerbe statt Stellen im höheren Management an. Das muss jedoch mit den Mitteln der Kultur- und Bildungspolitik angegangen werden.

Was unterscheidet Rassismus im öffentlichen Raum von Rassismus im Netz?

Die wesentlichen Unterschiede bestehen in der Anonymität der Täter, der theoretisch unendlichen Öffentlichkeit und der Dauerhaftigkeit. Eine verbale Diskriminierung an einer Supermarktkasse wird nur von der umstehenden Handvoll Leuten wahrgenommen und gerät schnell in Vergessenheit. Zudem kann die verursachende Person unmittelbar festgestellt werden, was dem Opfer bessere Handlungsoptionen für Gegenmaßnahmen ermöglicht. Eine rassistische Diffamierung in den sozialen Medien wird dagegen häufig aus dem Schutz der Anonymität heraus begangen, sie ist potenziell einem weltweit riesigen, ebenfalls größtenteils anonymen Publikum zugänglich und bleibt durch Teilen, Liken und Weiterversenden mit ihrer hässlichen Botschaft über einen sehr langen Zeitraum bestehen. Diese drei Faktoren führen dazu, dass der psychische und soziale Stress von Internetrassismus um ein Vielfaches potenziert ist, weil sich Handlungskontrolle und Schutz für die Opfer viel schwieriger herstellen lässt.

Welche Ansätze verfolgt die Polizei bei der Bekämpfung von Hasskriminalität im Netz?

Wie sonst auch gliedert sich das in die zwei großen Bereiche Prävention und Repression. Anders als die Strafverfolgung, die allein Sache der Polizei und Staatsanwaltschaft ist, muss die Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe auch von anderen Akteuren wie den Schulen, Sport, Kirchen, Kultur und Politik wahrgenommen werden. Trotzdem genießt die Polizei als normverdeutlichende Institution insbesondere bei Kindern und Jugendlichen nach wie vor ein hohes Ansehen. Gerade in den Zeiten von Fake-News-Debatten und Medienskepsis werden die Accounts der polizeilichen Presseportale als hochgradig glaubwürdig angenommen, wodurch die Ansprüche und Erwartungen an digitale polizeiliche Pressearbeit deutlich gestiegen sind. Speziell für die junge Zielgruppe wurden im Rahmen des Zivile-Helden-Projektes der polizeilichen Kriminalprävention des Bundes und der Länder interaktive Videos entwickelt, durch die sich die Nutzer durchklicken und dadurch den Verlauf der Geschichten selbst mitbestimmen können. Dabei werden spielerisch Lerninhalte über Extremismus, Radikalisierung und »Hate Speech« vermittelt. Mit dem Zivile-Helden-Portal konnten wir unter zivile-helden.de
eine Reichweite von bis zu 2,3 Millionen Kontakten erreichen. Die Universität Hannover hat das Projekt evaluiert, begleitet und konnte eine nachhaltige präventive Wirksamkeit der Videos in der relevanten jugendlichen Zielgruppe nachweisen. Bei den 30. Internationalen Wirtschaftsfilmtagen wurde der Aufklärungsfilm »Chris & Lea« über antisemitische Verschwörungsmythen ausgezeichnet. Bei aller gerechtfertigter Kritik, dass die Polizei immer noch mehr machen könnte und sollte, kann man also feststellen, dass es ihr gelungen ist, hier ein jugendgerechtes digitales Präventionsangebot auf die Beine zu stellen, welches auf der Höhe der Zeit ist und die Probleme von Hasskriminalität im Netz ernst nimmt.

Wie stark werden Hassvergehen und Rassismus im Netz inzwischen gemeldet und verfolgt?

Es ist davon auszugehen, dass die polizeilich gemeldeten Fälle nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Nicht jede Straftat kommt zur Anzeige. Dies gilt aber in ähnlicher Form auch für rassistische Beleidigungen und Bedrohungen im analogen Alltag. Darüber hinaus haben sich im Netz zum Teil verrohte Umgangsformen etabliert, die sich Menschen in analogen Situationen niemals gefallen lassen würden, die sie im Internet aber als vermeintlich unvermeidlich und normal in Kauf nehmen. Ein zusätzliches Problem bei der Verfolgung ist die schon angesprochene Anonymität vieler Täter. Die gesetzlichen Regelungen im Zusammenhang mit der Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes sollten die Situation seit Februar verbessern, stellen aber immer noch ein Problem dar, weil nationales Recht auf weltweit agierende Firmen mit Servern im Ausland anzuwenden ist. So hat Facebook in Europa z. B. seinen Sitz in Irland und muss nach den dort geltenden Regeln reguliert werden. Dem möchte die EU mit dem Digital Services Act begegnen, der vom EU-Parlament bereits beschlossen wurde und kurz vor der endgültigen Verabschiedung steht. Dann sollten sich die Strafverfolgungsmöglichkeiten zumindest EU-weit verbessern.

Welche Möglichkeiten gibt es sonst noch, den Verfolgungsdruck zu erhöhen?

Bislang kann die Polizei überwiegend nur diejenigen rassistischen Straftaten verfolgen, die angezeigt werden. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, es darf aber auch kein rechtdurchsetzungsfreier Raum sein. Da gibt es noch Verbesserungspotenziale. Deswegen bemüht sich die Polizei vermehrt, auch in der digitalen Welt präsent zu sein, um selbst Fälle aufzudecken. Dafür müssen Digitalstrategien entwickelt werden und es muss sich die Polizeiausbildung anpassen, um die Kompetenz im Bereich der Cyberkriminalität insgesamt zu steigern. »Digitale Streifen« können jedoch wie im echten Leben die Lücke zwischen Hell- und Dunkelfeld niemals vollkommen schließen. Eine effektive Bekämpfung von Rassismus im Netz erfordert daher immer auch die medienpädagogische Arbeit der Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie einen professionellen, länderübergreifenden Umgang mit kriminogenen Inhalten seitens der Internetwirtschaft und der Anbieter von sozialen Diensten und der Plattformen.

Die Plattformbetreiber sträuben sich jedoch gegen eine Regulierung und wollen selbst entscheiden, welche Inhalte sie löschen. Welche konkreten Ansätze sehen Sie da?

Hier ist als Strategie das sogenannte »Deplatforming« zu nennen, bei dem die Internetanbieter bestimmte rechtsextremistische Angebote oder rassistische Kanäle dauerhaft sperren und von ihren Plattformen verbannen. Dies kann auf Hinweis der Polizei, häufiger aber auch von Nutzern über die Beschwerdetools der Firmen sowie durch die eigenen Algorithmen, manuelle Qualitätskontrolle und KI-Systeme der Firmen selbst geschehen. Dabei können die eigenen Löschungsregeln der Internetanbieter zum Teil auch strenger oder anderslautend als die Strafrechtsnorm sein.

Welche Strafen drohen bei rassistisch motivierten Äußerungen in den sozialen Medien?

Bei Volksverhetzung drohen Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und fünf Jahren, bei Beleidigung und Bedrohung bis zu zwei bzw. drei Jahre – vorausgesetzt, die Täter können ermittelt werden. Während Volksverhetzung die Störung des öffentlichen Friedens voraussetzt, kommen Beleidigungen und Bedrohungen auch im privaten Rahmen vor. Bei beiden Delikten wirkt sich die Ausführung in der Öffentlichkeit strafverschärfend aus. In den sozialen Medien kann davon im Regelfall ausgegangen werden, sodass hier die höheren Strafmaße in Betracht gezogen werden müssen. Vermutlich ist nicht jedem bei der Strafbegehung aus dem Wohnzimmer, am Handy oder Laptop bewusst, dass er oder sie in einem öffentlichen Raum agiert. Es finden sich aber auch gezielt verbreitete Propagandastraftaten, bei denen deutlich erkennbar ist, dass sie von Anfang an auf die Erreichung eines möglichst großen Publikums angelegt sind. Die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden, damit sich die Täter ihrer Sache niemals sicher sein können. Deshalb ist es auch wichtig, dass darüber berichtet wird, wenn sie z. B. Politikerinnen und Politiker mit strafrelevanten Hasskommentaren belegen, und dass sie dafür zur Verantwortung gezogen werden. Wegen der abschreckenden Wirkung, aber auch damit die Opfer erfahren, dass sie nicht hilflos ausgeliefert sind und sie sich mit den Mitteln des Gesetzes zur Wehr setzen können.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2022.