Weg von Geranien hin zu Wildpflanzen auf dem Balkon – dafür macht sich Birgit Schattling als Initiatorin der Bio-Balkon-Bewegung stark. Politik & Kultur fragt nach, wie man nachhaltig auf Balkonien gärtnern kann.

Inwieweit ist der Garten auf dem Balkon ein deutsches Kulturphänomen?

In den Köpfen vieler Leute stecken alte Glaubenssätze wie »Man kann nur im Garten gärtnern« sowie »Zum Gärtnern brauche ich einen grünen Daumen«. Ich sehe, wie viele Balkons in Berlin und anderen Städten nicht bepflanzt sind. Wir verschenken damit so viel Potenzial! Blumen, Kräuter oder sogar Gemüse finden doch auf dem kleinsten Balkon ihren Platz. Meine Erfahrung als Initiatorin der Bio-Balkon-Bewegung zeigte mir, wie schwer es ist, Besitzer von Geranien-Balkons für heimische Wildpflanzen zu gewinnen. Wenige sind bereit, mehr als drei Balkonkästen mit Kräutern zu bepflanzen oder hochwachsendes Grün wie Gehölze und Rankpflanzen zu verwenden, damit ein eigenes Mikroklima auf dem Balkon entsteht. Menschen, die ihren Balkon etwas intensiver nutzen, sind in Deutschland noch selten. Menschen, die ihren Balkon dafür nutzen, mit heimischen Wildpflanzen zu gärtnern, die unseren heimischen Tieren aufgrund der Evolution am meisten nützen, sind Pioniere.

Corona brachte einen Umschwung, als die Wartelisten für Gärten länger und länger wurden. Der Balkon diente als Gartenersatz. Wer »nur« einen Balkon hat, kann auch dort viel anbauen. Der Platz ist zwar begrenzt, aber ob Kartoffeln, Spinat, Radieschen – es geht fast alles, nur kein Walnussbaum. Balkons sind prädestiniert für den Vierjahreszeitenanbau und bieten die Chance für den Rückzug in die Natur! Für viele ist inzwischen der Balkon eine kleine Flucht aus dem Alltag, das eigene Stück Garten inmitten der Stadt. Hier vergessen viele für einen Moment, dass um uns herum das urbane Leben tobt. Viele Menschen verbringen sogar ihren Sommerurlaub »auf Balkonien«.

Welche Rolle spielen Balkongärten sowohl für Flora und Fauna als auch für das Klima einer Stadt?

Jeder Blumentopf mit einheimischen Wildpflanzen ist in unseren stark versiegelten, blütenarmen Siedlungsräumen ein Gewinn für die Artenvielfalt und fürs Klima. Kein Raum ist zu klein, um Insekten und Vögeln zu helfen. Naturnah gestaltet sind Balkons und Fensterbretter wertvolle Trittsteinbiotope für Insekten, sogar für spezialisierte Wildbienen. Mit Glockenblumen z. B. fördern wir die auf deren Pollen spezialisierten Glockenblumen-Scherenbiene, mit der Aussaat oder Pflanzung von Natternkopf die Natternkopf-Scherenbiene, mit Wollziest und Echtem Herzgespann tun wir Wollbienen etwas Gutes.

Dass Balkons so viele Arten anlocken, hätte früher niemand gedacht, nicht einmal die Experten der Naturschutzorganisationen. Doch es ist noch viel mehr möglich, wenn die »Balkonier« noch gezielter und deutlicher motiviert werden, insektenfreundlich zu gärtnern. Um noch mehr Kenntnisse darüber zu erlangen, welche spezialisierten Wildbienen und anderen Insekten in welcher Stadt in welche Stockwerke hochfliegen, wurde aktuell das Citizen-Science-Projekt stadtinsekten.de aufgelegt. Es bietet eine einfache Möglichkeit, seine Beobachtungen online zu melden.

Hilfe bei der Pflanzenauswahl bietet NaturaDB, eine großartige Unterstützung, die perfekten Pflanzen für den gegebenen Standort zu finden, eine einfache Planung zu erstellen und sogar Potenziale aufzudecken, weitere Insekten und andere Tiere anzulocken. In dieser Datenbank kann man sich Pflanzen nach verschiedensten Auswahlkriterien wie Schatten, Sonne, Blühfarbe, Blühmonat, Blühdauer, Insektenfreundlichkeit, Wintergrün, Essbarkeit anzeigen lassen. NaturaDB zeigt übersichtlich, wie viele Wildbienen, Schmetterlinge sowie Schmetterlingsraupen eine bestimmte Pflanze nutzen, sodass wir uns bei unserer Pflanzenauswahl leicht vom ökologischen Wert leiten lassen, Blühpflanzen für jeden Monat von März bis Oktober finden und möglichst Wildformen nutzen können.

Gärtnern wieder mehr Menschen auf ihrem Balkon? Was gilt es beim Garten auf dem Balkon zu beachten?

Eine deutliche Coronaauswirkung war, dass das Interesse am Gärtnern, auch auf dem Balkon, spürbar zunahm. Ob bepflanzter Balkon oder Garten: In und nach der Coronazeit hat das mehr oder weniger große Stück Grün für viele Menschen eine ganz neue Bedeutung bekommen. Auch ich habe ein deutlich stärkeres Interesse am Balkonthema registriert. Die Menschen hatten mehr Zeit, später kamen finanzielle Engpässe, sie wollen sich ihr Obst, Gemüse und Kräuter selbst anbauen. Mein Online-Kongress zum biologischen Balkongärtnern hat mit 28.000 Interessierten einen neuen Rekord erreicht. In meiner Facebook-Gruppe zum Bio-Balkon-Kongress herrscht so viel Aktivität wie nie zuvor.

Pflanzt Vielfalt! Seid viel mutiger, spielerischer und experimenteller, als bisher Balkon gedacht und gehandhabt wurde. Nutzt höher wachsende Pflanzen, auch die Decken und Wände, das hat einen großen Einfluss aufs Mikroklima. Pflegt das Bodenleben in den möglichst großen Pflanzgefäßen, schafft Dauererde. Töpfe mit integriertem Wasserspeicher erleichtern das Gärtnern enorm. Schwärmt vom pflegeleichten Naturbalkon. Schließlich dürfen wir immer etwas ernten, haben einen Blick ins Grüne, sorgen für bessere Luft, fördern Insekten. Das Gefühl, ein Ökosystem geschaffen zu haben, in dem »Schädlinge« von »Nützlingen« reguliert werden, auf dem Südbalkon auch im Hochsommer ein angenehmes Mikroklima zu genießen, tut einfach gut. Lassen wir es gemeinsam brummen, summen und zwitschern! Unsere Balkons, ja jedes begrünte Fensterbrett ist ein kleines Puzzlestück zur Renaturierung unserer Städte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.