D er Weg zu den modernen Gesundheitsverhältnissen lässt sich sinnvoll beschreiben mit dem Modell des Epidemiologischen Übergangs von einer Zeit der Seuchen und Hungersnöte in vorindustriellen Gesellschaften bis hin zur Periode der gesellschaftlich verursachten Krankheiten, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs, im ausgehenden 20. Jahrhundert. Im Licht der Sars-CoV-2-Pandemie wird nun die Rückkehr der Infektionskrankheiten als weitere anschließende Periode eingeführt. Ökologischer Raubbau und Globalisierung bringen alte, längst besiegt geglaubte sowie auch bisher unbekannte Infektionskrankheiten mit sich. Zunehmende Antibiotika-Resistenzen und fehlende medizinische Interventionsmöglichkeiten lassen traditionelle Aspekte der Hygiene in den Blick rücken. Dieser aus dem Griechischen stammende Begriff meint einerseits die Lehre von der Gesundheitserhaltung des Einzelnen wie auch der Allgemeinheit, andererseits schließt er zudem alle Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit sowie die Vermeidung bzw. Bekämpfung von epidemisch und pandemisch auftretenden Infektionskrankheiten mit ein. Seit jeher beschäftigen sich die Menschen mit Aspekten der Hygiene, allerdings waren die Maßstäbe für Sauberkeit und Körperhygiene einem ständigen Wandel unterworfen: Im Zuge des Schwarzen Todes, der großen Pestepidemie 1346 bis 1353, die in Europa 25 Millionen Todesopfer gefordert haben soll – ein Drittel der Bevölkerung –, wurden etwa Quarantänemaß-nahmen eingeführt und Pesthäuser gekennzeichnet; italienische und französische Ärzte sollen zum Schutze eine Art Maske in Form eines Schnabels getragen haben. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Pockenschutzimpfung eingeführt. Ihre Blütezeit erlebte die Hygiene dann im 19. Jahrhundert. Öffentliche und private Hygiene wurden zur Grundlage für die Industrialisierung und den aufkommenden europäischen Welthandel, denn nichts wurde mehr gefürchtet als eine Unterbrechung des Handels. Öffentliche Gesundheitsfürsorge wurde zu einer Aufgabe des Staates und erstreckte sich auf Trinkwasserversorgung und Kanalisation, Lebensmittelhygiene, Gesundheitserziehung und viele weitere Felder des modernen städtischen Lebens.

Das 20. Jahrhundert war geprägt durch »grippeartige« Erkrankungen. Die Spanische Grippe von 1918/20 übertraf mit einer geschätzten Zahl von bis zu 50 Millionen Todesfällen weltweit die Anzahl der durch Kriegseinwirkung Gestorbenen. Vielen Städten gelang es mit Quarantäne, Ausgehverboten und Schulschließungen die Todeszahlen zu senken. Als die Pandemie abflaute, endete sie auch sozial. Der Erste Weltkrieg war vorbei, die Menschen wollten Krieg und Krankheit hinter sich lassen und so war die Grippewelle schnell vergessen. Voller Euphorie begann man die »Goldenen Zwanziger«-Jahre, obwohl das Virus noch immer in der Bevölkerung zirkulierte. Teilweise wurden die Isolationsmaßnahmen öffentlich aufgehoben, teilweise ergriffen die Menschen selbst die Initiative und legten die Vorsichtsmaßnahmen ab, auch wenn dadurch Ansteckung und möglicherweise Tod in Kauf genommen wurden.

Jahrzehnte später führte die Hongkong-Grippe von 1968/70 zu überfüllten Krankenhäusern und einem »Bestattungsnotstand«. Masken kamen zum Einsatz; im Winter 1969/70 wurden Schulen geschlossen und in manchen Wirtschaftsbereichen die Produktion heruntergefahren – jedoch zumeist nur als Reaktion auf einen Ausbruch und nicht präventiv als Gesundheitsvorsorge, wie es während der Covid-19-Pandemie gehandhabt wurde. Medikamente wurden knapp: Antibiotika, fiebersenkende Mittel, Hustensäfte. Dennoch reagierte die Politik weitgehend empathielos und setzte auf Herdenimmunität. Wie weit hier noch eugenische Gedanken an Auslese aus der ersten Jahrhunderthälfte – es trifft sowieso nur Alte und Kranke – im Spiel waren, sei dahingestellt, auf jeden Fall traf die Pandemie auf eine Nachkriegsgesellschaft, für die Leid und Tod durch Kriegs- und Hungererfahrungen noch wesentlich präsenter waren und deren Resilienz offenbar stärker ausgeprägt war.

Die Infektionskrankheiten blieben aber weiterhin im Fokus. Sogenannte Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter wurden bei der Anwerbung noch im eigenen Land vor allem auf Tuberkulose untersucht, aus Furcht, die Krankheit könnte nach Deutschland eingeschleppt werden. Mehr und mehr jedoch galten die Infektionskrankheiten in den kommenden Jahrzehnten als besiegt – durchaus auch befeuert von Medizin und Wissenschaft – oder als ein Problem des »Globalen Südens« wie HIV/Aids, und die Hygiene geriet aus dem Blick: Jahrzehnte ohne Krieg – zumindest vor der eigenen Haustüre –, unbegrenzte Mobilität und eine moderne Hightech-Medizin versprachen Wohlstand und sichere Lebensjahre. Hygiene wurde nun eher in ihrem Übermaß thematisiert und etwa für das Ansteigen von Allergien verantwortlich gemacht.

Trotz einiger Warnschüsse zu Beginn des 21. Jahrhunderts –Vogelgrippe, Schweinegrippe, SARS und MERS – traf Sars-CoV-2 Politik und Gesellschaft unvorbereitet. Noch zu Beginn von 2020 wurde die Seuche von Politik und Medien bagatellisiert und von der Gesellschaft als Problem Chinas wahrgenommen. Erst die Schreckensbilder aus italienischen Krankenhäusern und von so vielen Toten, dass geregelte Bestattungen unmöglich wurden, ließen aufschrecken. Unklarheit über die Ansteckungswege und fehlende Medikamente führten zurück zu klassischen Hygienemaßnahmen: Händewaschen und Körperkontakt vermeiden; kein Händeschütteln und keine »bises« mehr, Schulschließungen, Homeoffice, Abstand. Als die Bedeutung der Aerosole als Übertragungsweg immer klarer hervortrat, erfuhren die »Masken« Konjunktur: erst selbst genäht, dann abgelöst durch industriell gefertigte medizinische oder FFP2-Masken – mit einigen wohl unvermeidlichen Skandalen wegen mangelnder Qualität oder Korruption bei der Beschaffung. Ein Klassiker in der Geschichte der Epidemien ist die Identifizierung vermeintlich Schuldiger, entweder Personen aus gesellschaftlichen Randgruppen oder Fremde. Hier nun ging der Blick eindeutig nach China. Eine erfolgreiche Impfung, begleitet von einer entsprechenden Kampagne, beschleunigte das Endemisch-Werden von Corona. Die Sterberaten sinken, andere Schrecken beherrschen nunmehr die Titelseiten der Medien und den politischen Diskurs. Die Masken fallen (nicht so in Asien), Veranstaltungen finden wieder statt und auch die notorischen deutschen Händeschüttler sind schon wieder unterwegs. Angesagt ist weiterhin das Händewaschen – vielleicht weil es symbolisch aufgeladen ist –, eine Aufarbeitung der Pandemie findet jedoch (noch) nicht statt, die Verantwortlichen jedenfalls waschen ihre Hände in Unschuld. Was hoffentlich im kulturellen Gedächtnis bleibt, ist, dass das Leben eine unsichere Angelegenheit ist. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.