Seit 2002 leitet die Ethnologin Wiebke Ahrndt das Übersee-Museum Bremen. Für den Deutschen Museumsbund übernahm sie federführend die Erarbeitung von Leitfäden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten und menschlichen Überresten. Politik & Kultur fragt nach, wie ethnologische Museen aktuell dekolonialisiert werden und wie sich ihre Zukunft gestaltet. 

Inwieweit haben ethnologische Museen in Deutschland ihre Sammlungen dekolonialisiert? Wie ist der aktuelle Stand in Ihrem Haus, dem Übersee-Museum Bremen? 

Alle ethnologischen Museen sind dabei, ihre Sammlungs- und Ausstellungsarbeit zu dekolonisieren. Die Sammlungen stammen vielfach aus kolonialen Kontexten; dies lässt sich nicht rückgängig machen. Was wir tun können, ist deren Provenienz zu erforschen, daraus Konsequenzen zu ziehen und unseren Blick auf die Zukunft zu richten. Es gibt dabei keinen Endpunkt oder Sammlungen, hinter die wir quasi einen Haken machen können, sondern wir sprechen von andauernden veränderten Arbeitsprozessen in den Museen. 

Um es konkret zu machen: Provenienzforschung findet im Übersee-Museum Bremen kontinuierlich statt, sowohl in der täglichen Arbeit im Kleinen als auch in großen kooperativen Forschungsprojekten. Indem wir die Herkunft unserer Exponate hinterfragen, begeben wir uns auch auf den Weg zu einem neuen Selbstverständnis eines Museums: So erfolgte im Februar 2022 eine Übergabe von menschlichen Überresten an Hawaii. Ein Mitglied der Delegation sagte damals, dass wir damit ein neues Kapitel aufschlügen; von nun an gelte es, gemeinsam Geschichte zu schreiben. Dekolonisierung bedeutet also, die gemeinsame Zukunft zu gestalten, ohne die Vergangenheit aus den Augen zu verlieren.  

Als Direktorin des Übersee-Museums Bremen haben Sie bei der Erarbeitung des Leitfadens zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten des Deutschen Museumsbundes, der mittlerweile in der 3. Auflage vorliegt, die Federführung übernommen. Wie wurde diese angenommen, wie war die Resonanz darauf? 

Die Resonanz war positiv. Von der ersten Auflage an begleitete der Leitfaden die aktuelle öffentliche und politische Debatte rund um das Thema und lieferte eine dringend benötigte Grundlage für die weitere Diskussion über die koloniale Vergangenheit von Museen und ihren Sammlungen. Sicher lässt sich die positive Resonanz aber auch auf den Arbeitsprozess am Leitfaden zurückführen. Dieser war von Beginn an transparent und ergebnisoffen ausgelegt. Der Leitfaden wurde mit Expertinnen und Experten aus elf Herkunftsgesellschaften grundlegend diskutiert, um deren Blickwinkel entsprechend Raum geben zu können. Internationale Fachkolleginnen und -kollegen hatten Gelegenheit, sich durch Beiträge, Rezensionen oder Stellungnahmen aktiv an der Überarbeitung der Texte zu beteiligen. Damit haben wir bereits im Entstehungsprozess unterschiedliche Perspektiven einbezogen und das praktiziert, was der Leitfaden empfiehlt.  

Darüber hinaus gibt es Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen. Was gilt es bei diesem sensiblen Thema zu beachten? 

Zentral für die Behandlung dieses sensiblen Themas ist die Berücksichtigung der Heterogenität der menschlichen Überreste selbst sowie die Vielfalt der Kontexte ihrer Erwerbung. Entscheidend ist ein Bewusstsein für die ethische Dimension beim Umgang mit menschlichen Überresten, die alle Aufgabenbereiche des Museums berührt. Das Thema erfordert ein Höchstmaß an Sensibilität, eine grundsätzliche Offenheit für Rückgaben, ein möglichst transparentes und proaktives Vorgehen sowie fundierte Einzelfallprüfungen. Der vom Deutschen Museumsbund veröffentlichte Leitfaden dient dabei als Praxishilfe und beantwortet relevante Fragen zum Umgang mit menschlichen Überresten entlang den Hauptaufgaben eines Museums: Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln. Darüber hinaus bietet der Leitfaden mit Hintergrundinformationen aus verschiedenen Fachdisziplinen differenzierte Zugänge zu der Thematik.  

Rückgabeforderungen der Herkunftsgesellschaften halten nicht nur an, sondern mehren sich. Was ist weiter von musealer und auch von politischer Seite zu tun? 

Die meisten Herkunftsgesellschaften, die sich an uns wenden, fragen nach dem Sammlungsbestand und sind interessiert an Kooperationen. Dies kann, muss aber nicht, mit Rückgabeforderungen einhergehen. In ethnologischen Museen sind die bereits erwähnte Transparenz, die Bereitschaft zur Rückgabe und die Zusammenarbeit entscheidende Elemente. 

Von politischer Seite können die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. Es ist gut, dass inzwischen Mittel zur Provenienzforschung und zur Digitalisierung der Sammlungen – Letzteres als Basis zur Schaffung von Transparenz und Zusammenarbeit – eingeworben werden können. Der vielfach geäußerte Wunsch nach Kooperation dagegen muss meist unerfüllt bleiben. Ist also Dekolonisierung das Ziel, muss die finanzielle Ausstattung der ethnologischen Museen deutlich verbessert werden. Dann sind Rückgaben nicht das Ende, sondern ein Anfang. 

Wie können ethnologische Museenin Deutschland in Zukunft aussehen? Welche Pläne, aber auch Visionen gibt es z. B. beim Übersee-Museum Bremen? 

Im Übersee-Museum realisieren wir derzeit ein großes Ozeanien-Projekt: Die Kommunikation mit den Communities spielt dabei eine zentrale Rolle. So gehören zum ersten Mal zum Team des Übersee-Museums ein Co-Kurator und eine wissenschaftliche Praktikantin aus Samoa. Ergänzt wird dies durch die Kooperation mit der National University of Samoa. Wir erhoffen uns, dass diese kontinuierliche Zusammenarbeit für alle Beteiligten – hier im Museum und im Pazifik – eine Bereicherung darstellt. Durch diese Veränderung in der Arbeit des Museums wird aus dem Schlagwort Perspektivenwechsel gelebte Praxis. Solche Projekte sollten zukünftig an der Tagesordnung sein. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.