Er ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Modedesigner, als Fernsehmoderator und Juror beliebt. Doch angefangen hat Guido Maria Kretschmer seine Karriere als Designer von Arbeitskleidung, die er noch immer erfolgreich kreiert. Wie es dazu kam, inwieweit Mode als Kommunikationsmittel unsere Gesellschaft prägt und auf welche Modetrends er verzichten könnte, erläutert Guido Maria Kretschmer im Gespräch mit Maike Karnebogen. 

Maike Karnebogen: Herr Kretschmer, schon mit neun Jahren haben Sie in Ihrer Heimatstadt Münster Ihre erste Nähmaschine geschenkt bekommen. Wie sah Ihr persönlicher Start in die Modebranche aus? 

Guido Maria Kretschmer: Die Nähmaschine war auf jeden Fall nicht sehr praktisch und sehr manuell. So habe ich zuerst irgendwie einen Handwerksmoment erlebt, bis ich dann irgendwann auch richtig kreativ sein konnte. Es war aber auch ein sehr inniges Verhältnis und hat mir gezeigt, dass man mit vielen kleinen Stichen ein großes Wunderwerk erleben kann. Meine Nähmaschine war der ­erste Scheinwerfer meines Lebens: Das Licht meiner kleinen Pfaff 260. Und das war mein persönlicher Start in die Modebranche. 

Ihre Karriere begannen Sie vor ­allem als Designer von Arbeitskleidung. Einer Ihrer ersten Großaufträge war die Kreation von Uniformen für die Crewmitglieder der Fluglinie Hapag-Lloyd, Firmen wie TUI, Emirate Airlines sowie die Deutsche Telekom folgten. Inzwischen zählen Sie mit Ihren Großaufträgen für Unternehmenskleidung zu Europas erfolgreichsten Corporate Fashion-Designern. Wie kamen Sie dazu, Arbeitskleidung zu kreieren und was zeichnet diese aus?  

Corporate Fashion ist eine Art von Mode. Früher hat man »Uniform« dazu gesagt und irgendwann wurde es dann zu »Corporate Fashion«. Mein großes Ziel war es immer, aus den einzelnen Teilen Kombinationen zu schaffen, die Mitarbeiter einfach gerne tragen. Die Corporate Fashion ist genau deshalb auch die Königsliga der Mode, weil die Sachen zum einen vielen Leuten gefallen müssen, Männern wie Frauen, zum anderen müssen sie repräsentativ sein, sie müssen das Unternehmen präsentieren, aber auch dafür sorgen, dass Leute wahrgenommen werden als die, die sie sind, ohne die eigene Persönlichkeit aufzugeben. Das ist eine besonders große Herausforderung. Ich habe es geliebt, diese Art von Mode zu entwerfen und habe in diesem Bereich sicher einiges revolutioniert, durch neue Systeme, die ich für die Designs entwickelt habe. Da gab es viele Innovationen, auch bei den Materialien. Und, dass ich es wirklich geschafft habe, aus Unternehmensbekleidung eben auch Mode zu machen. Mein Weg in diesen Bereich hat auf dem Hippie-Markt auf Ibiza begonnen, auf dem ich damals meine eigenen Designs verkauft habe. Eine Stewardess hat immer wieder bei mir eingekauft und irgendwann hat ihr Chef zu ihr gesagt: »Wo bekommen Sie eigentlich die Sachen her?«, und dann hat sie gesagt: »Ja, da gibt es so einen Deutschen auf dem Hippie-Markt«. Daraufhin hat er nachgefragt, ob ich nicht Interesse daran hätte, deren Uniformen zu designen, und ja, so nahm das Ganze dann seinen Lauf. 

Welche Rolle und Bedeutung kommt Corporate Fashion IhrerMeinung nach in der Mode­landschaft zu und wie hat sich der Bereich in den letzten Jahren entwickelt und verändert? Kann Corporate Fashion von der Haute Couture lernen – oder umgekehrt? 

Ich glaube, wie gesagt, dass Corporate Fashion die Möglichkeit gibt, Corporate Identity zu visualisieren. Mode und Menschen sind da natürlich das beste Vehikel. Ich glaube auch, dass man sich hinter Corporate Fashion etwas verstecken kann und in diesem Look dann eben der ist, der das Unternehmen repräsentiert. Am Abend legt man die Kleidung ab und lässt das ein wenig hinter sich. Die Sachen müssen gut passen und funktional sein. Bei Haute Couture geht es eigentlich nur um Schneiderkunst. Bei der Corporate Fashion steht die perfekte Verarbeitung im Fokus und vielleicht auch Nachhaltigkeit wie kaum in einem anderen Bereich der Mode, weil die Sachen natürlich halten müssen und im täglichen Gebrauch sind. Es ist so, als wenn man seine Lieblingsbluse jeden Tag tragen würde und sie 180 Mal im Jahr wäscht, wenn es gut läuft. Dann ist ja klar, dass sie irgendwann durch ist. Und das darf natürlich bei Corporate Fashion nicht passieren. Wir arbeiten mit verschiedenen Qualitäten, die das zulassen und diesem Standard gerecht werden. Ich würde deshalb sagen, dass meine Mode eigentlich heute davon profitiert, weil ich ja immer noch den Blick auf gute Qualität und Verarbeitung lege. Die Couture ist nicht davon betroffen, aber die Ready-to-wear konnte eine Menge von Corporate Fashion lernen.  

Selbstverständlich entwerfen Sie nicht nur Arbeitskleidung. Ihr Label ist regelmäßig auf großen Modenschauen vertreten, Sie designen exklusive Abendmode sowie alltagstaugliche Kleidung, Kostüme für diverse Theater- und Filmproduktionen und sind für TV-Shows wie »Shopping Queen« bekannt. Inwieweit prägt Mode für Sie als Kommunikationsmittel unsere Gesellschaft? 

Mode gibt uns die Möglichkeit, laut zu rufen, ohne einen Ton zu sagen, darüber wer man ist, sein möchte oder sein könnte. Das ist definitiv so. Ich glaube fest daran, dass Mode die Haut der Seele ist und ein Spiegel von dem, was in dir schlägt oder eben der Gruppe, der du zugehören willst. Das hat dann auch mit Identität stiften zu tun. Wir sehen zuerst auf die Klamotte und weniger auf die schönen blauen Augen oder den besonderen Gang. Es geht natürlich darum, sofort zu erkennen, wer bin ich, woher könnte ich kommen, welche Gruppe ist meine. Wenn jemand z. B. Gothic mag, dann sieht man das auch gleich. Textil spielt in diesem Zusammenhang definitiv eine große Rolle – bin ich Frau, bin ich Mann, bin ich dazwischen, gehe ich gerade wohin oder komme ich gerade zurück, bin ich vielleicht eine Klosterschwester, die sagt: »Ich liebe Gott!«? Im Grunde nutzen auch diejenigen dieses Vehikel, die die Mode komplett ablehnen, weil sie auch damit wieder ein Statement setzen und sagen: »Genau, ich bin so oder so und ich halte mich da raus.« Und auch das ist dann visuell. Ich glaube, an Mode kommt niemand vorbei. 

Für »Shopping Queen« sind Sie in vielen Großstädten in Deutschland unterwegs. Aber auch kleine Städte sind dabei. Unterscheidet sich die Mode in Metropolen stark vom eher ländlichen Raum? 

Ja, insofern, dass manchmal in den sehr urbanen Plätzen Mode auf die Spitze getrieben wird, weil einfach die Akzeptanz größer ist für Individualisten, als das auf dem Land der Fall ist. Da halten sich die Menschen modetechnisch meist etwas zurück. Obwohl es natürlich auch auf dem Land ein riesen Potenzial gibt. Ich glaube, dass Individualität nicht unbedingt mit dem Platz zu tun hat, an dem ich lebe. Trends werden in aller Regel in den Städten gemacht, aber sie werden auf dem Land geboren, in ethnischen Ecken dieser Welt und werden dann meistens von Metropolen und urbanen Menschen als Modestyle neu interpretiert. Und deshalb würde ich sagen, dass das Land der Stadt modetechnisch mittlerweile sehr auf den Fersen ist.  

Die Mode verändert sich ständig: Nachhaltigkeit spielt eine immer größere Rolle, die Onlinebranche boomt, Plus-Size-Mode ist keine Ausnahme mehr, Geschlechtergrenzen werden aufgebrochen. Was war für Sie die bahnbrechendste Veränderung in der Modelandschaft der letzten 20 Jahre? Und welchen Einfluss hat die Coronapandemie ggf. auf die Mode? 

Mode ist aktuell, wie selten in den letzten Jahrzehnten, etwas demokratischer geworden. Da hat ein großer Wechsel stattgefunden, auch aufgrund der großen Ketten, der großen Nachfrage und Begehrlichkeit für viele Menschen und dass viele Dinge viel schneller verfügbar sind. Das war in meinen Anfangszeiten als Modedesigner nicht so. Da gab es die normale Konfektion, das etwas bessere Fach. Heute gibt es alles in allen Variationen in einer günstigeren Version. Das ist auf jeden Fall ein Vorteil, aber es besteht auch die Gefahr, dass die Leute nicht mehr so viel Respekt haben vor Textil. Ich glaube aber trotzdem, dass es immer diese Speerspitze geben wird, dieses handwerklich perfekt Gemachte. Wenn durch die Coronazeit eines wieder entstanden ist, dann ist es die Liebe zu Couture. Paris hat wieder ein großes Revival erlebt. Das hat den Leuten natürlich wieder gezeigt, dass man irgendwie Handwerkskunst ehren muss. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass Corona sicher da nochmal diesen neuen »at leisure«-Stil gebracht hat. Da hat sich ein neuer Stil entwickelt, es gibt jetzt so einen neuen »Half-Office ­Style«, der so ein bisschen aussieht wie Home Wear, nur gestylt. – Ich glaube, dass viele Unternehmen auch Dinge sehen werden, die sie vor der Pandemie nie gesehen haben. Textilsünden im Büro. Mode reagiert immer ganz sensibel auf die Zeit. Und auf jeden Fall ist Corona da ein großes Thema. 

Auf welche Modetrends können Sie verzichten? 

Wenn zu viel Retro kommt und es einfach nur Wiederholung ist von dem, was schon einmal da war, dann ist es vielleicht für die, die es neu erleben, ein ganz tolles Erlebnis. Jeder, der die 1980er Jahre erlebt hat, denkt sich: »Ach bitte, nicht schon wieder solche Schulterpolster!« Das Schöne an Mode ist, dass die gleichen Fehler gemacht werden und dass man in der Retrospektive, in der Nachschau, immer denkt: »Ach Gott, was habe ich denn da angehabt?« Ich glaube, das gehört auch dazu. Es wird sicher auch viel in der Zukunft passieren. Aber ansonsten würde ich sagen, ich würde verzichten auf Mode, die Körper oder Anatomie nicht respektiert oder die, die Materialität nicht so wichtig nimmt. Auf Pelz könnte ich in Gänze verzichten und tue es auch. Da gibt es doch ganz wunderbare Innovationen, die nicht tierischen Ursprungs sind. 

Auf welche Modetrends können wir uns im Jahr 2022 noch freuen? 

Es kommt auf jeden Fall eine neue Farbkombination – ein Colourblocking in einer ganz neuen Art. Es kommen wieder Farben auf das Trapez, die man schon lange vergessen hatte. Es gibt sehr schöne neue Kon­struktionen in Form von Mänteln für die Übergangszeit, weil sich die Saison so verändert hat, und vielleicht auch große Statementketten, die ich aber eigentlich ganz schön finde. In 2022 sind auf jeden Fall einige Sachen dabei, auf die wir uns freuen können, aber die wahre Message ist, dass, wenn man etwas gefunden hat, das einem gefällt, man es heute souverän tragen kann, ohne das Etikett zu verlieren, modisch und stylisch zu sein. Mittlerweile kommt gut an, was gut gefällt, und das ist auch ein Ausdruck von Freiheit. 

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2022.