Haben Sie schon einmal von der »Kleiderei« gehört – ein Start-up, dessen Geschäftsmodell genauso wie eine Bücherei funktioniert? Als Mitglied können Sie sich jeden Monat ein paar neue Teile ausleihen: Markenkleider, auch von Fair Fashion Brands, Secondhand-Kleider, Kleider vom Flohmarkt. Die Gründerinnen der »Kleiderei« sind an vielen Orten unterwegs, um spannende Outfits zusammenzutragen, die sie dann verleihen – frei nach dem Motto: »Stil hast Du, Kleider leihst Du«. Ein Geschäftsmodell, das wohl nicht nach dem Geschmack der deutschen Textil- und Modeindustrie sein dürfte, werden Sie sich jetzt denken.  

Meine Antwort wird Sie überraschen: Ich finde dieses Geschäftsmodell absolut passend. Zum Markenkern mittelständischer Modemarken gehören gute Qualität, Langlebigkeit und eine gute Passform und so freuen sich auch viele Designerinnen und Designer, wenn sie ihre Kreationen aus früheren Kollektionen auf verschiedenen Plattformen der Secondhand-Community online oder offline wiederentdecken; schließlich ist das ein Beleg für gutes Design, Tragbarkeit und Werthaltigkeit!  

Wer sich einmal damit befasst hat, wie aufwendig der Weg von der Herstellung der Garne und Stoffe bis zum fertigen Kleidungsstück ist, hat kein Verständnis, dass Textilien in der Fast Fashion zu einem Wegwerfprodukt geworden sind. Es darf und kann nicht sein, dass neu kaufen billiger als waschen ist.  

Es darf und kann aber auch nicht sein, dass in der öffentlichen Diskussion die gesamte Textil- und Bekleidungsherstellung in den Fast-Fashion-Topf geworfen wird. Die Textil- und Modeindustrie in Deutschland mit ihren zahlreichen zumeist mittelständischen Familienunternehmen ist sich nicht nur ihrer Verantwortung für faire Umwelt- und Sozialstandards bewusst, sie setzt seit jeher auf Qualität und Langlebigkeit. Für uns haben Textilien einen Wert. Wir geben Textilien einen Wert und deshalb ist es richtig und wichtig, dass die Nachhaltigkeit in der öffentlichen Diskussion und im politischen Handeln einen zunehmenden Stellenwert erfährt.  

Doch auch diese Diskussion müssen wir ehrlich führen. Nachhaltigkeit hat einen Preis, so wie gute Lebensmittelmittel auch einen Preis haben. Nachhaltigkeit ist auch mehr als gutes Marketing, sondern die ständige Auseinandersetzung mit dem Produkt. Diese Auseinandersetzung findet auch in unseren zahlreichen textilen Ausbildungsstätten und Forschungsinstituten statt. Mit viel Einsatz und Know-how ist es Deutschland gelungen, sein textiles Wissen in Zukunftstechnologien zu integrieren.  

Inzwischen befinden wir uns mitten in einer Transformation, deren Dimension längst noch nicht im allgemeinen Bewusstsein angekommen ist. Die globale Bekleidungsindustrie steht an einem Wendepunkt, an dem der nachhaltige Umgang mit Ressourcen über ihre Zukunftsfähigkeit entscheiden wird.  

Wir haben dafür jede Menge Innovationen anzubieten, die sich die deutsche Textilindustrie in den vergangenen Jahrzehnten Schritt für Schritt erarbeitet hat. Wir können Garne produzieren, die robust und haltbar und trotzdem kompostierbar sind. Wir können Garne aus CO2 herstellen, erste Socken aus CO2-Garn haben schon den Test bestanden. Auch Kleider aus verwelkten Rosenblüten oder aus Algenstoffen sind schon auf roten Teppichen vorgeführt worden und machen neugierig auf noch mehr kreislauffähige Materialien, wie biobasierte Fasern aus Wurzelabfällen von Chicorée. Aber es ist auch wichtig, herkömmliche Fasergemische trennen und wiederverwerten zu können.  

Die neue Zeit ist längst auf den Laufstegen der Welt angekommen. Kaum ein Fashion-Event, das sich nicht mit der Frage nach der Nachhaltigkeit der Mode beschäftigt. Fair ist chic, der Wandel sichtbar. Von der Ausbildung junger Designerinnen und Designer und Textilfachleute bis hinein in die Ateliers berühmter Modelabels. Hier zeigt sich, was Mode eben auch ist: Ausdruck der jeweiligen Zeit mit all ihren Herausforderungen. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken, die sich mit dem Phänomen der Mode als Zeichen- und Kommunikationssystem auseinandergesetzt hat, zitiert in diesem Zusammenhang den Philosophen Walter Benjamin: »Wer die Mode zu lesen versteht, kann lesen, was kommt«. Für gute Leser, so Vinken, sei Mode der gesellschaftliche Seismograf schlechthin.  

Wenn es danach geht, ist Nachhaltigkeit schon längst mehr als ein Trend. Ein Fünftel der Unternehmen der deutschen Textil- und Modeindustrie macht laut einer Umfrage des Gesamtverbandes textil+mode schon über die Hälfte der Umsätze mit nachhaltigen Produkten und über 90 Prozent wollen ihr Angebot an nachhaltigen Produkten in naher Zukunft noch weiter ausbauen. Allerdings zeigen Befragungen von Verbraucherinnen und Verbrauchern immer noch eine große Lücke, wenn es um die Einstellung zu Nachhaltigkeit und das tatsächliche Einkaufsverhalten geht. Über 70 Prozent finden nachhaltige Mode gut, beim Kauf entscheidet aber dann doch allzu oft der Preis. Ein Trend, der angesichts einer rasant steigenden Inflation, wie wir sie schon lange nicht mehr erlebt haben, nicht so schnell zu brechen sein wird. Und gute Qualität hat ihren Preis. 

Die erst vor Kurzem in Brüssel vorgestellte Textilstrategie der EU-Kommission zeigt hier zumindest im Kleingedruckten eine bemerkenswerte Lernkurve der Politik. Zwar unterlässt auch die Kommission, zu definieren, was Fast Fashion ist. Immerhin werden aber die technischen Fähigkeiten und Aktivitäten der europäischen Textilindustrie anerkannt. Als wichtige Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit in der Mode gelten auch in der Politik Kreislaufwirtschaft und Digitalisierung: Produzieren nach individuellen Kundenwünschen in kleinen Losgrößen zu erschwinglichen Preisen, Transparenz entlang der Lieferketten, Ressourceneffizienz durch weniger Verschnitt und eine Kreislaufwirtschaft, die weit über den textilen Tellerrand denkt. So können aus alten Anzügen Blumenkübel werden, aus Fischernetzen Badeanzüge, die dann weiter zu einem Zeltdach verarbeitet werden. Kaffeesatz, Bananen- oder Ananasschalen wandern nicht in den Müll, sondern in Garne; schier endlose Materialkreisläufe, die erst am Anfang der Entwicklung stehen. Europa braucht dafür ausreichend gut ausgebildete Fachkräfte und vor allem ausreichend grüne Energie zu bezahlbaren Preisen, damit aus theoretischem Wissen auch Sprunginnovationen werden. Nur so wird der Green Deal gelingen, zumal die finanziellen Möglichkeiten in einer Zeit von Krieg, Wirtschaftskrise und explodierenden Energiepreisen in Europa endlich sind.  

Den Weg in eine klimaneutrale Wirtschaft werden wir nur erfolgreich beschreiten, wenn wir weiterhin einen starken industriellen Mittelstand in Deutschland haben. Garne können nur recycelt und wieder zu neuen Fäden versponnen werden, wenn wir Produktionsstätten und Menschen haben, die das auch können. Für neue textile Kreisläufe brauchen wir die gesamte textile Wertschöpfungskette, wie Spinnereien, Webereien und Textilveredler.  

Ohne unsere mittelständische Indus­trie wird uns die Klimawende nicht gelingen. Textil ist dabei in vielen Bereichen der Werkstoff, aus dem die Zukunft ist. Unsere Unternehmen liefern hochspezialisierte Textilien in die verschiedensten industriellen Anwendungen zu – von Umwelttechnik zum Reinigen von Luft und Wasser bis hin in den Fahrzeug- und Flugzeugbau. Kein Rotorblatt eines Windrads dreht sich ohne Textil, auch künstliche Gefäße oder künstliche Bandscheiben sind aus textilen Fasern, smarte Textilien messen Blutdruck und Herzfunktionen ihres Trägers und sind damit, so wie Schutzkleidung für Feuerwehr und Polizei, weit mehr als Bekleidung und die sprichwörtliche zweite Haut. Das sind die Errungenschaften der sogenannten technischen Textilien, ein Feld, auf dem unsere Unternehmen Weltmarktführer sind.  

Vieles muss aber erst gar nicht neu erfunden werden, weil Kleider und Schuhe pflegen und reparieren noch die beste Form von Nachhaltigkeit ist. Was über die vergangenen Jahrzehnte oft aus der Zeit gefallen schien, muss wieder zum Standard werden. Mode ist kein Wegwerfprodukt. Mode ist neben dem Nutzen der Bekleidung, die Möglichkeit, die eigene Individualität zu unterstreichen. Mode ist aber auch Kunst und gehört als wesentlicher Bestandteil zu unserer Kultur. Sehr oft ist Mode inzwischen auch politisch, wenn sich beispielsweise die EU-Kommission mit einer Textilstrategie beschäftigt. In jedem Fall zeigt die Entwicklung, dass es bei Mode wieder auf Wertschätzung ankommt, und das ist eine gute Nachricht für alle, die sie entwerfen, produzieren und mit großer Freude tragen wollen.  

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2022.