Guter Streit ist eines der wichtigsten Elemente in einer funktionierenden Demokratie. Denn gerade die Reibung zwischen den einzelnen Meinungen und Blöcken verhindert jeglichen Absolutheitsanspruch. Und Absolutheitsansprüche blockieren nicht nur Konsens und Partizipation; schlimmer, sie blockieren Fortschritt und Entwicklung. Erst durch den Streit der unterschiedlichen Meinungen und Richtungen wird Politik im besten Sinne zu einem produktiven Such-, Entdeckungs- und Verwerfungsprozess. Streit lässt dadurch genauso Neues entstehen, wie er Vorhandenes zerstört. Beides ist letztlich Voraussetzung dafür, in einer sich schnell verändernden Welt zu bestehen. Genau deswegen ist die Abwesenheit von Streit Gift für jedes politische System.

Aber leben wir tatsächlich in einer Welt des »Guten Streites«? Eines Streits, der der Sache wegen respektvoll und ergebnisoffen geführt wird, im Sinne von Hans-Georg Gadamer unter der Annahme, dass der andere vielleicht auch recht haben könnte. Zu oft ist das nicht so: Deswegen nicht, weil politischer Streit zunehmend als Kernelement der politischen Aufmerksamkeitsökonomie instrumentalisiert wird. Um medial vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zum »Netz« wahrgenommen zu werden, braucht es »Beef«, also zugespitzten, gerne auch den Widerpart verletzenden Streit. Und reicht die mediale Außenwahrnehmung nicht, wird die Auseinandersetzung über die eigenen Kanäle der sozialen Medien zumindest in die jeweilige Blase transportiert. Streit als Selbstzweck, um die wichtigste Währung der Politik, die Wahrnehmung, zu generieren? Nicht nur das: Politischer Streit in der Demokratie funktioniert nur, wenn er immer zuerst in der Sache und nicht aus einer moralischen Argumentation heraus geführt wird. Denn Sachfragen sind verhandelbar, Moral ist es nicht! Und genau dieses moralisierende Aufladen nicht der ganz großen ethischen Fragen und Linien, sondern bis hinein in die politische Alltagsauseinandersetzung ist eine der schwierigsten Entwicklungen in der jüngeren Vergangenheit.

Ja, es ist verführerisch, weil es so einfach ist, wenn ich dem anderen aus einer moralischen Position abspreche, eine bestimmte Auffassung vertreten zu dürfen. Und es ist so einfach, wenn ich den anderen nicht am Inhalt seiner Argumente, sondern an seinen vielleicht auch im Eifer gefallenen Formulierungen moralisch qualifiziere. Denn dann brauche ich mich weder mit den Argumenten des anderen auseinandersetzen, noch – und das ist entscheidender – muss ich meine eigenen Positionen hinterfragen.

Ich denke, beide Punkte: Die Instrumentalisierung von Streit zur Erlangung von öffentlicher Aufmerksamkeit und noch mehr die zunehmende Moralisierung bis hinein in die täglichen politischen Sachfragen führen zu der mittlerweile auch viele sogenannte »nichtpolitische Menschen« abstoßenden Tonalität in der demokratischen Debatte in diesem Land.

Ich werbe daher dafür, mehr »Guten Streit« zu wagen. Ein Streit, der nicht auf Aufmerksamkeit, auf moralische Selbstvergewisserung, auf das Niederringen des politischen Wettbewerbers, sondern auf das Suchen nach den besten Lösungen ausgerichtet ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.