Noch in den 1980er Jahren sprachen Comic-Kenner von »Deutschland«, gemeint war die BRD, als »Comic-Entwicklungsland«. Kein Wunder. Es gab nur vereinzelt Comicschaffende, die ihre Kunst eher nebenher betrieben. Was in Massen vorlag, waren lizenzierte Comic-Serien aus den USA, Belgien und Frankreich, meist auf Kinder ausgerichtet. »Schund«, nannte die Elterngeneration die bunten Bildergeschichten; nur da und dort in der Subkultur, wie bei Gerhard Seyfried und Ralf König, sprossen verstörend-heimelige Blüten. 40 Jahre später finden sich Werke deutschsprachiger Comicschaffender in Literaturhäusern und Buchhandlungen, werden gefördert und mit Preisen bedacht. Das Geld bleibt knapp, das Ansehen wächst. Dieses Jahr ist erstmals eine Graphic Novel für den Leipziger Buchpreis nominiert: »Rude Girl« von Birgit Weyhe. Was ist geschehen? Die kurze Antwort könnte lauten: der Fall der Berliner Mauer. Die Hochschulen. Und Manga.

Mauerfall

Die BRD war vielleicht Comic-Entwicklungsland, doch die DDR war eine Comic-Wüste, jedenfalls wenn man unter »Comic« US-Comic-Hefte oder frankobelgische Alben versteht. Asterix, Batman und Disney kamen allenfalls als Schmuggelware in den Osten, wo allerdings die osteuropäische Buchkunst bemerkenswerte Dinge mit Bild-Text-Erzählung anstellte. Comic nannte sich das nicht. Als aber eine Schar junger DDR-Kunstschaffender, mit einem Mal im freien Fall, 1989 auf eine engagierte, avantgardistische Westberliner Comic-Szene traf, dann wird ihnen das experimentelle Comic-Erzählen des US-amerikanischen RAW-Magazins oder FRIGO in Frankreich nicht ganz fremd vorgekommen sein. In Ostberlin waren das Anke Feuchtenberger, Henning Wagenbreth, ATAK, CX Huth und andere, die kamen, sahen und Kollektive gründeten, und die dann auf Comic-Festivals gleichgesinnten Grenzsprengern aus dem Westen, wie Martin tom Dieck, Markus Huber, Hendrik Dorgathen, und aus der Schweiz z. B. MS Bastian, Thomas Ott und Anna Sommer begegneten. Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie. Das Schweizer Comic-Magazin »Strapazin«, stand als Heimat für innovative Outsider bereit; mutige Kleinverlage boten Raum für Comic-Buchformate, die noch nicht Graphic Novel genannt wurden. Was für eine aufregende Zeit, als sich der Comic neu erfand und der deutschsprachige Raum für ein Mal nicht hinterherhinkte, sondern, getragen von vielen Umbrüchen, vorne mit dabei war!

Hochschulen

20 Jahre später treffen wir eine ganze Reihe der oben genannten Personen auf Lehrstühlen in deutschen Hochschulen wieder. Hier unterrichten sie Visuelle Kommunikation und säen nebenher die Saat für nächste Comic-Generationen; manche – Feuchtenberger in Hamburg – schon seit Ende der 1990er Jahre. Dahinter steckt weder eine Verabredung noch Verschwörung, glaube ich zumindest. Die Lehre bietet ein regelmäßiges Einkommen, die Innovationslust im Comic hervorragendes Anschauungsmaterial für Bild-Text-Experimente. Der Schritt zum Selbermachen folgt dann der Spur jedes jungen Kunstschaffens: Der Blick zum Horizont gerichtet, Selbstorganisation als Überlebenspraxis. Du hast keine Chance, also nutze sie. Hochschulstrukturen, materiell und personell, kommen diesem Weg besonders entgegen. Früh schon entstanden in Hamburg, Berlin, Leipzig, Kassel und weiteren Zentren studentischen Comicschaffens selbstorganisierte Ausstellungen, Lesungen, Magazine, Festivals, Kleinst- und Selbstverlage, und mehr noch Vernetzungen in alle Richtungen, über ganz Europa verteilt und später, mit Beistand des Goethe-Instituts, auch in Richtung Übersee. Der deutschsprachige Comic nährt sich heute von diesen Netzwerken, den essayistischen und historisch-(auto)biografischen Geschichten, die daraus hervorgehen, von ihrer Kunst – und ihrem Eigensinn. Max Baitinger. Ulli Lust. Mawil. Barbara Yelin. Anna Haifisch. Sascha Hommer. Simon Schwartz. Birgit Weyhe. Die Lehre wird durch sie und viele weitere fortgesetzt, ohne das eigene Werk zu vernachlässigen. »Those who can’t, teach« – der Satz gilt für dieses grafische Erzählen nicht.

Manga

Mit den Hochschulen stieg ganz nebenbei die Präsenz von Frauen im deutschsprachigen Comic-Garten weiter an. In männlich dominierten Fankurven wurde die neue Weiblichkeit mit Skepsis betrachtet. »Experten« suchten in ihren Werken eifrig nach dem »weiblichen Strich«. Hin und wieder riet dann einer den Urheberinnen, das mit den Comics doch lieber sein zu lassen, denn: »Frauen lesen keine Comics.« Wer sonst sollte ihre Werke auch lesen wollen? – Und dann kam, um die Jahrtausendwende, Manga. Der Erfolg von »Dragonball« und »Sailor Moon« hatte eine Flut von japanischen Serien auf den Markt gebracht, denen die angefütterte Jugend nachrannte, an ihrer Spitze jede Menge junger Frauen. Sie stürmten die Comic-Läden, paradierten kostümiert auf Festivals und Buchmessen, trafen sich beim Cosplay und im digitalen Raum und fingen bald schon an, selbst Comics zu zeichnen; eine friedliche Invasion in weit mehr als nur Gender-Hinsicht. Manga ist partizipativ, Foren ermutigen Fan-Kunst, die geteilt und kommentiert wird. Webcomics liegen nah oder doch näher, Vorreiterinnen wie Sarah Burrini (»Das Leben ist kein Ponyhof«) machen vor, wie großartige Situationskomik, Fan-Pflege und Patreon-Einnahmen zusammengehen können. Buchverlage ziehen nach: Olivia Vieweg bei Suhrkamp, Christina Plaka und Anike Hage bei Carlsen. Manga gibt es nun auch made in Germany, geprägt von einer mitunter delirierenden Fabulierlust. David Fülekis Turbo-Gore-Serie »78 Tage auf der Straße des Hasses« ist ein herausragendes Beispiel – und steht in direkter Nachfolge zur bekifften Subkultur von damals. Oder doch zu »Kondom des Grauens« von Ralf König von 1978. Derselbe Drive, andere Drogen: Was für ein Fest.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.